Energiewende durch Wasserstoff

Wie viele Wasserstoff-Kraftwerke erfordert die Energiewende und wie erhalten wir sie?

Selbst wenn die ehrgeizigen Ausbauziele für die erneuerbaren Energien erreicht werden, zeigt die vorliegende Simulation, dass Deutschland 2045 rund 100 GW an Wasserstoff (H2)-Kraftwerken benötigen wird. Trotz des enormen Bedarfs, der von der Politik noch nicht gesehen wird, verläuft der Ausbau von H₂-fähigen Kraftwerken sehr schleppend. Das reine Energy-Only-Market-Konzept versagt und muss um zusätzliche Anreize und Kapazitätsmärkte ergänzt werden.

Die Klimaproblematik spitzt sich weltweit zu (UN, 2022). Auch auf nationaler Ebene wird der Handlungsbedarf immer akuter. Das verdeutlichte nicht nur das Bundesverfassungsgerichtsurteil von 2021 zum Klimaschutzgesetz, sondern jüngst auch die Stellungnahme des Expertenrats für Klimafragen (2023) zum „Klimaschutzprogramm 2023“.

Unter dem öffentlichen Druck erhöhte die Politik ihre klimapolitischen Ambitionen mit Blick auf die Reduktion der Treibhausgasemissionen (THG) erheblich. Allein bis 2030 müsste sich nach unseren Berechnungen die jährliche Abbaurate der Emissionen vervierfachen! Meint es die Politik mit diesen Vorgaben ernst, müsste zügig ein weites Spektrum einschneidender Maßnahmen beschlossen werden. Dies beträfe nicht nur die Stromversorgung, sondern es stünden auch die Wärmeversorgung, die Mobilität, die industrielle und landwirtschaftliche Produktion sowie das Konsumverhalten unter Änderungszwang. Erschwerend kommen aber die Folgen des Ukrainekriegs und die Uneinigkeit unter den Regierungsparteien hinzu. Bisweilen agiert die Politik in dieser Gemengelage – wie beim Gebäudeenergiegesetz – geradezu kopflos. Immer mehr rächt es sich, dass nicht frühzeitig über alle Ministerien hinweg ein ganzheitlich konzipierter, vom Finalziel aus heruntergebrochener und den erforderlichen Vorlaufzeiten gerecht werdender „Masterplan Energiewende“ aufgelegt wurde.

Erhöhte Ausbauziele bei erneuerbaren Energien

Politisch wenig umstritten ist die Initiative des Bundeswirtschaftsministeriums (BMWK), den Ausbau der erneuerbaren Energien (EE) zu beschleunigen (vgl. Tabelle 1). Angesichts des vollzogenen bzw. geplanten Abschaltens der Kern- und Kohlekraftwerke ist der Ersatz dieser Kapazitäten durch EE eine notwendige Bedingung für eine erfolgreiche Energiewende.

Tabelle 1
Angestrebter (Mindest-)Expansionspfad
Jahr EE-Ausbau THG-Reduktion
ggü. 1990 (in %)
Wind
on-
shore
[GW]
Wind
offshore
[GW]
Photo-
voltaik
[GW]
EE-Anlagen gesamt
[GW]
EE-Anteil am Bruttostrom-
verbrauch (in %)
2022 58 8 67 148 47 – 39
2030 115 30 215 ~ 375 80 – 65
2040 160 55 400 ~ 640 ~ 100 – 88
2045 160 70 400 ~ 650 ~ 100 – 100 (netto)

Quelle: Agora (2023); KSG (2021); EEG (2023 §4); BNetzA (2023, 97). Für 2022 vorläufige Ist-Angaben.

Dem „Osterpaket“ des BMWK zufolge sollen die EE mit 600 TWh schon 2030 80 % des deutschen Bruttostromverbrauchs befriedigen. Zehn Jahre später soll die fast vollständige EE-Versorgung erfolgen. Getragen werden soll die Expansion von Wind-, vorrangig aber von Photovoltaikanlagen (PV). Für Wasserkraftwerke, Biomasse- und sonstige EE-Anlagen, die derzeit zusammen mit knapp 20 GW einen EE-Kapazitätsanteil von 13 % haben, wird mit einem Rückbau auf insgesamt 8 GW gerechnet. Bereits innerhalb von nur acht Jahren sollen 50 % mehr an EE-Kapazitäten hinzukommen, als in den zurückliegenden 30 Jahren aufgebaut wurden – und das bei bis 2045 vollständigem Ersatzbedarf für die EE-Anlagen der ersten Generation. Zentral im „Osterpaket“ waren die Novellen des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) und des Energiewirtschaftsgesetzes (EnWG) sowie des Windenergie-auf-See-Gesetzes (WindSeeG) und des Windenergieflächenbedarfsgesetzes. Vorrangig wurde beschlossen: Die Ausschreibungsvolumina für den EE-Ausbau werden deutlich erhöht. Die EE-Nutzung wird zur Angelegenheit „überragenden öffentlichen Interesses“ und „öffentlicher Sicherheit“ erklärt. Im Abwägungsfall sollen andere Schutz­interessen zurückstehen und Klagen schneller abgewiesen werden. Verschlankte Bürokratieprozesse sollen Planungs-, Genehmigungs- und Bauverfahren beschleunigen. Eine verstärkte Beteiligung von Kommunen an dezentralen Energieanlagen soll helfen, Ausbauwiderstände vor Ort leichter zu überbrücken. Bis 2032 sollen 2 % der Bundesfläche für die Onshore-Windanlagen ausgewiesen werden.

Trotz der umfangreichen Änderungen besteht angesichts des Ausmaßes der zu bewältigenden EE-Erweiterung, des engen Zeitkorsetts und der Erfahrungen mit bürokratischen Hindernissen, mit Personal- und Materialengpässen auch bei Wirtschaftsverbänden erhebliche Skepsis hinsichtlich der Erreichbarkeit.

„Wackelkontaktproblem“ der Stromproduktion

Dabei ist das Verwirklichen der EE-Ausbauziele nur eine notwendige, aber keineswegs hinreichende Bedingung für eine erfolgreiche Transformation. Denn der Anlagenpark wird nicht mehr von bedarfsgerecht steuerbaren Kraftwerken dominiert, sondern von auf Wind und Sonneneinstrahlung angewiesenen Einheiten. Infolgedessen sind auch die starken Schwankungen in der Stromerzeugung zu bewältigen. In Abbildung 1 wurden die Strom­einspeisung aus Wind-, PV-, Bio- und Wasserenergie-Anlagen sowie der Verbrauch für die „Wetterjahre“ von 2016 bis 2021 unter den angestrebten veränderten Rahmenbedingungen des Jahres 2045 simuliert. Wir stützen uns hier nicht nur auf ein „typisches“ Wetterjahr, sondern auf mehrere Jahre, da auch unter atypischen Konstellationen die Stromversorgung zu sichern ist.

Abbildung 1
Einspeise-Verbrauchs-Simulation
Einspeise-Verbrauchs-Simulation

Quelle: eigene Berechnungen.

Bezogen auf die Stromzufuhr wurden zum einen die vom Verband der Europäischen Übertragungsnetzbetreiber (ENTSO-E) gemeldeten Daten auf das angestrebte Ausbauszenario für 2045 hochgerechnet. Demnach wird die EE-Stromzufuhr zukünftig etwa zwischen 5 GW und 400 GW schwanken. Zum anderen wurden die beobachteten Verbräuche (schwarze Lastkurve) auf die Verbrauchsstruktur 2045 mithilfe vorgegebener und eigener, literaturgestützter Annahmen hochskaliert. Der Verlauf dieser fiktiven Kurve baut auf Daten der Bundesnetzagentur im Szenario eines „normalen“ Stromverlaufs auf und ergänzt diese um den zukünftigen Bedarf aus der Elektromobilität und aus dem Wärmepumpenbetrieb. Der dargestellte Stromverbrauch beinhaltet auch Netzverluste von knapp 10 % der übertragenen Leistung. Er beinhaltet nicht die Leistungsaufnahme von Elektrolyseuren. Die benötigte Verbraucherleistung schwankt nach dieser Berechnung zwischen ca. 45 GW und 165 GW.

Abbildung 1 verdeutlicht das „Wackelkontaktproblem“: In Starkwind-Phasen mit zugleich hoher Sonneneinstrahlung wird mit dem Erzeugungsmix der Zukunft zu viel Strom erzeugt, in „Dunkelflaute-Phasen“ hingegen zu wenig. Gemessen am zukünftig saisonal ebenfalls stärker schwankenden Bedarf werden sich so Zeiten mit einem ausgeprägten Einspeiseüberschuss (blau) und einem ebenfalls signifikanten -defizit (lila) abwechseln. Der hohe Kapazitätsanteil der Photovoltaikanlagen, deren Stromerzeugung besonders volatil ist und nachts sogar vollkommen ausbleibt, akzentuiert diese Problematik. Es überwiegen in der Summe die Überschüsse die Defizite, sodass über ein ganzes Jahr mehr Strom erzeugt als verbraucht wird. Das Versorgungsproblem besteht mithin weniger in der produzierten Jahresmenge an Strom als in der fehlenden Synchronisation von Erzeugung und Verbrauch. Im Fall von Einspeiseüberhängen muss die Leistung dabei entweder über Pump- oder Batteriespeicher oder durch Wasserstoff-Elektrolyse eingespeichert oder – sofern dort benötigt – ins Ausland exportiert werden. Alternativ könnte Lasten-Management betrieben werden. Angebotsseitig könnten dabei Anlagen in der Regel gegen eine Prämienzahlung abgeschaltet werden. Verbrauchsseitig ließe sich zeitlich vorgezogene Stromnachfrage insbesondere über günstige Preise oder im Zweifelsfall sogar über Abnahmeprämien anregen.

In Defizitphasen hingegen muss die fehlende Leistung aus heimischen Pump- und Batteriespeichern oder aus Wasserstoffspeichern in Verbindung mit H2-(Turbinen-)Kraftwerken oder – soweit verfügbar – über Stromimporte ergänzt werden. Alternativ könnte auch hier Lastenmanagement dafür sorgen, dass Verbraucher durch finanzielle Anreize in diesen Phasen auf den Strombezug verzichten bzw. ihn zeitlich verschieben oder dass die benötigte Leistung durch Eingriffe des Netzbetreibers „gedimmt“ (z. B. Drosseln der Ladeintensität bei Elektroautos) oder durch gezieltes Abschalten ganzer Versorgungskreise (Brown-Out) reduziert wird. Gelingt die jederzeitige Synchronisation von Erzeugung und Verbrauch nicht, kommt es zu Blackouts mit dramatischen Konsequenzen. Technisch ist diese Synchronisation im Grundsatz machbar. Die in Abbildung 1 dokumentierten Dimensionen verdeutlichen aber, welche enormen Herausforderungen dabei zu bewältigen sind.

Erheblicher Zubau an H2-Kraftwerken

Bei einer Beurteilung der aufgezeigten Synchronisationsalternativen zeigt sich nachfolgend, dass das Vermeiden einer Unterversorgung zwingend den Aufbau umfangreicher H2-Kraftwerkskapazitäten voraussetzt, die zudem aus entsprechend dimensionierten Speichern mit Wasserstoff zu versorgen sind (wir gehen von Speicherkapazitäten von mindestens 120 TWh aus). In den Defizitphasen (vgl. Abbildung 1) liegt die maximale Ausfallleistung eines Jahres bei etwa 140 GW, mit häufigen Phasen, in denen mindestens 80 GW fehlen. Die größten Leistungsdefizite treten im Winter auf, zu einer Zeit, in der Photovoltaik-Anlagen kaum Leistung erbringen und in der lang andauernde Windflauten auftreten können. Zudem ist ausgerechnet in dieser Jahreszeit der Energiebedarf am größten.

Bezogen auf die in den Defizitphasen noch aufzubringende Residuallast halten wir – vorrangig gestützt auf die angegebene Quelle, aber auch auf Abschätzung des Westfälischen Energieinstituts – im Jahr 2045 folgenden Datenkranz für realistisch (vgl. Tabelle 2): Die Abschaltpotenziale werden in unserer Berechnung so behandelt wie ein stromlieferndes Kraftwerk. Denn in der netzstabilisierenden Wirkung ist es unerheblich, ob ein Kraftwerk die noch fehlende Leistung liefert oder ob das Defizit durch eine gleich große Drosselung des Verbrauchs beseitigt wird. Bei den Stromimporten wurde in unserem Normszenario unter Beachtung von McKinsey (2023) im ersten Schritt nur mit einer Importkapazität von 10 GW gerechnet. Sie soll zwar schon bis 2030 auf 35 GW oder mehr ausgebaut werden. Vor dem Hintergrund häufig zeitgleicher Engpassphasen muss das Ausland aber auch bereit sein, diese Kapazität zur Verfügung zu stellen, weil sie dort nicht selbst benötigt wird. Die Defizitspitzen eines Jahres von etwa 140 GW könnten somit zwar kurzfristig mit einem Leistungspotenzial von 185 GW ausgeglichen werden. Jedoch ist dieses Potenzial zeitlich nur begrenzt verfügbar. Maximal könnte in einer Defizitphase eine Strommenge von gut 800 GWh über die oben tabellierten Quellen mobilisiert werden. Das ist häufig angesichts der Dauer der Unterversorgung zu wenig. Daher bedarf es eines Back-ups durch H2-Kraftwerke.

Tabelle 2
Normszenario Spitzenlastoptionen (Back-up-Möglichkeiten ohne H2-Kraftwerke)
Residuallast-Quellen Verfügbare
Leistung
Ununterbrochen abrufbar Ergiebigkeit
Pumpspeicher 11 GWa ca. 6 h ca. 65 GWhb
Batteriespeicher 141 GWc 2 kWh/kWc 282 GWh
Stromimport 10 GWd 36 he 360 GWh
Abschaltpotenzial größerer Betriebe 12 GWf 1,5 he 18 GWh
Abschaltpotenzial Wärmepumpen 11 GWe 8 he 88 GWh
Summe 185 GW   813 GWh

a BNetzA (2022, Tab. 19);  b linear hochgerechnet von 6,3 GW/37,4 GWh 2017 (Heimerl et. al., 2017) auf 11,1 GW;  c BNetzA (2022, 68), Szenarien A/B;  d McKinsey (2023);  e eigene Schätzung; BNetzA (2022, 4), Szenarien B/C; McKinsey (2023, 4) geht von 5 GW aus. f BNetzA (2022, Tab. 9).

Für die Modellierung des H₂-Kraftwerksbedarfs wird von der in Abbildung 2 präsentierten Vorstellung zur Befriedigung der Residuallast, d. h. der abgeforderten, aber von den EE-Anlagen nicht gedeckten Last, ausgegangen. Hier sind z. B. die Stunden 8.400 bis 9.800 des 6-Jahres-Zeitfensters dargestellt: Zunächst wird willkürlich eine vorhandene Nennleistung von H2-Kraftwerken in Höhe von 80 GW angesetzt. Bei Gaskraftwerken wird üblicherweise unterstellt, dass 85 % davon (also 68 GW) gesichert abgerufen werden können (Energie-Lexikon, 2023). Im Fall von Versorgungsengpässen durch die EE-Anlagen dürften diese Kraftwerke zuerst als Puffer eingesetzt werden. Nur bei sehr kurzzeitigen Leistungsdefiziten (unter 15 Minuten), in denen größere H2-Kraftwerke gegebenenfalls erst auf Betriebsleistung gebracht werden können, werden vorübergehend Pumpspeicherkraftwerke oder Großbatterien unterstützend zum Einsatz kommen. Ab Erreichen der Einspeisegrenze durch H2-Kraftwerke springen dann die anderen in Tabelle 2 genannten Optionen als „Spitzenlastlösung“ ein. Diese Rollenverteilung, wonach zuerst die H2-Kraftwerke die Grundlast, die anderen Optionen die Spitzenlast bedienen, resultiert aus zwei Überlegungen. Wenn die H2-Kraftwerke die Spitzenlast decken würden, ergibt die Simulation erstens einen höheren Bedarf an H2-Kraftwerken und zweitens wären diese Kraftwerke aufgrund ihrer größeren Trägheit im An- und Abfahren kaum in der Lage, in einem letzten Zugriff die stark volatilen Spitzen auszugleichen. Die Differenz zwischen der zu deckenden Residuallast und dem 68-GW-Beitrag der H2-Kraftwerke (Strecke zwischen schwarzer Kurve und der Horizontalen bei 68 GW) quantifiziert den abzugebenden Leistungsbeitrag der Spitzenlastlösungen. Die lilafarbenen Flächen geben den von ihnen abgeforderten Strombedarf an.

Abbildung 2
Residuallastdeckung bei 80 GW Nennleistung von H2-Kraftwerken
Residuallastdeckung bei 80 GW Nennleistung von H2-Kraftwerken

Quelle: eigene Berechnungen.

In der Spitze werden im abgebildeten Zeitrahmen etwa 70 GW an Spitzenlastleistung benötigt, über den 6-Jahreszeitraum sind es maximal ca. 82 GW. Da die Gesamtleistung aus den Spitzenlastlösungen 185 GW beträgt (vgl. Tabelle 2), werden zwar punktuell die Leistungskapazitäten zu keinem Zeitpunkt ausgereizt, aber die Dauer der Leistungsverfügbarkeit reicht häufig nicht aus, um den Strombedarf zu decken. Wenn die Kapazitäten der Spitzenlastlösungen mehr als acht Stunden ununterbrochen benötigt werden, sind sie, abgesehen von den Importmöglichkeiten, erschöpft. Im Extremfall, in dem auch noch Versorgungssicherheit gegeben sein soll, wird ihre Leistung innerhalb eines 6-Jahreszeitraums nach dieser Simulation aber bei H2-Kraftskapazitäten von 80 GW Nettonennleistung über 57 Stunden ununterbrochen benötigt. Die Residuallast-Quellen in Tabelle 2 müssten dann 2.100 GWh beitragen. Bei dem abrufbaren Potenzial von nur gut 800 GWh droht mithin ein Blackout.

In Abbildung 3 wurde die Simulationsrechnung nun mit unterschiedlichen Vorgaben für die H2-Kraftwerksleistung variiert. Die Kurve (lila) gibt an, wie groß bei einer auf der Horizontalen vorgegebenen Nettonennleistung der Kraftwerke der auf der Vertikalen erforderliche Beitrag aus den Spitzenlastlösungen in Extremphasen sein müsste. Z. B. findet sich dort bei ca. 80 GW Nettonennleistung bzw. ca. 68 GW sicher verfügbarer Leistung auf der vertikalen Achse der zuvor ermittelte Bedarf von 2.100 GWh (bzw. 2,1 TWh). Da im „Normszenario“ der Tabelle 2 etwa 800 GWh Energie zu Verfügung stehen, werden im Umkehrschluss etwa 105 GW an H2-Kraftwerksnennleistung benötigt. Dabei werden diese Kraftwerke durchschnittlich zu etwa 1.600 Volllaststunden pro Jahr laufen. Zugleich lässt sich mithilfe der Abbildung ablesen, wie groß der Kraftwerksbedarf unter anderen Annahmen für die Spitzenlastpotenziale wäre. Wenn Deutschland beispielsweise autark sein will, also ohne Importe von z. B. Kohle- oder Atomstrom auskommen will, stehen für Dunkelflauten länger als acht Stunden nur knapp 400 GWh Energie zur Verfügung. Dann bedürfte es 118 GW an H2-Kraftwerksleistung. Bei voller Auslastung der geplanten zukünftigen Importkapazitäten (1.500 GWh) wären H2-Kraftwerke mit einer Leistung von 104 GW erforderlich. Sofern noch größere Energiemengen aus Import gesichert zur Verfügung stehen, z. B. für fünf Tage, reichten auch geringere H2-Kraftwerksleistungen aus.

Abbildung 3
Erforderliche Gaskraftwerksleistung in Abhängigkeit von Energiebeitrag durch Spitzenlastlösung
Erforderliche Gaskraftwerksleistung in Abhängigkeit von Energiebeitrag durch Spitzenlastlösung

Quelle: eigene Berechnungen.

Ausbaudynamik von Gaskraftwerken

Der langfristige H2-Kraftwerksbedarf ist mithin viel größer als bislang offiziell veranschlagt. Die BNetzA geht davon aus, dass 2045 Gaskraftwerke mit einer Gesamtnennleistung von mehr als 35 GW zur Verfügung stehen werden. Bliebe dies so, müssten die „Spitzenlastlösungen“ einen Energiebeitrag von 5,5 TWh verfügbar machen können (vgl. Abbildung 3). Angesichts der engen Grenzen der anderen Lösungsoptionen in Tabelle 2 müsste das primär durch eine drastische Erhöhung von Importen organisiert werden. Nur müsste dann das Ausland während der längsten „Dunkelflaute“ innerhalb des betrachteten 6-jährigen Zeitraums eine Energie von gut 5.000 GWh, das 11,4-fache der deutschen Energieverfügbarkeit, ins deutsche Netz einspeisen können und wollen. Dies würde zu der absurden Situation führen, dass das Ausland extra für Deutschland Kraftwerke vorhalten müsste, statt dass Deutschland diese gleich selbst bei sich installiert.

Zusammenfassend werden bei Ausnutzen realistischer Lastenmanagement-, Pump- sowie Batteriespeicherpotenziale die erforderlichen Back-up-Kapazitäten an H2-Kraftwerken am Ende des Transformationsprozesses nach dieser Simulationsrechnung je nach Importmöglichkeiten zwischen 90 und fast 120 GW, vermutlich aber eher bei gut 100 GW, liegen. Das entspricht einer Kapazität von über 80 großen Kernkraftwerken. Eine jüngst erschienene Studie von e.venture kommt mit 90 GW – als eine von wenigen Studien – zu einer ähnlichen Größenordnung.

Unstrittig ist, dass es auch schon mittelfristig bis 2030 erheblichen Bedarf an zusätzlichen Erdgaskraftwerken geben wird, die später mit Blick auf die THG-Neutralität auf Wasserstoffbetrieb umrüstbar sein sollten. Die BNetzA quantifiziert den noch erforderlichen Zubaubedarf bis 2031 z. B. auf 17 bis 21 GW. Eine Studie von McKinsey befürchtet sogar bis 2030 eine Versorgungslücke von 30 GW. Dabei wird sich der Bedarf mit fortschreitendem Kohleausstieg „spätestens“ bis 2038 kontinuierlich und deutlich erhöhen. Sollte der Ausstieg – wie auch diskutiert – gar 2030 erfolgen, akzentuiert sich die kurzfristige Zubaunotwendigkeit erheblich. Teilweise lassen sich allerdings auch vorhandene Erdgaskraftwerke später auf Wasserstoffbetrieb umrüsten. Betriebswirtschaftlich lohnenswert und technisch machbar erscheint dies aber allenfalls für die jüngeren Kraftwerke. Wenn man hier ein Maximalalter von derzeit zehn Jahren ansetzt, ließen sich nach unserer Auswertung der Kraftwerksliste der BNetzA Gaskraftwerke in einer Größenordnung von 5,5 GW mobilisieren. Zudem befinden sich ca. 3 GW bereits im Zubauprozess (vgl. Abbildung 4). Bis 2045 werden daher nach dieser Rechnung neue und noch nicht in Planung befindliche H2– bzw. H2-ready-Gaskraftwerke mit einer Gesamtleistung von gut (~100 GW – 5,5 GW – 3 GW ») 90 GW benötigt. Erfahrungsgemäß ist beim Zubau jedoch mit einem erheblichen Planungsvorlauf zu rechnen. Praktiker verweisen hier zumindest für größere Kraftwerke auf die „1-2-3-Regel“: demnach ist ein Jahr für die Planung, sind zwei Jahre für den Genehmigungsprozess und drei Jahre für die Fertigstellung nötig (Westfälische Nachrichten, 2023).

Abbildung 4
Zubau an Gaskraftwerken
Zubau an Gaskraftwerken

Quelle: Bundesnetzagentur Kraftwerksliste vom 22. November 2022 und eigene Berechnungen.

Trotz des mittel- und vor allem auch langfristigen Bedarfs ist die tatsächliche Ausbaudynamik bei Gaskraftwerken jedoch unstetig und sehr moderat. In den vergangenen zehn Jahren wurden in der Summe gut 6,3 GW an Erdgaskraftwerken zugebaut. Mit dem Ausbruch des Ukrainekriegs und den damit verbundenen Engpässen in der Gasversorgung sind 2022 die Erweiterungspläne indes geradezu eingebrochen. Während 2022 noch knapp 1,2 GW an Erdgaskraftwerken in Betrieb gingen und noch mehr Zubauten geplant wurden, verringern sich die prognostizierten Zahlen für 2025 auf 0,2 GW.

Energy-Only-Market: Selbstheilungskräfte …

Der hohe zukünftige Bedarf und die Zurückhaltung beim Neubau von (H2-ready-)Gaskraftwerken stehen in starkem Kontrast zueinander. Zugleich lässt dies erhebliche Zweifel an der Strategie der früheren Bundesregierungen aufkommen. 2015 sprach sich die damalige große Koalition gegen „Kapazitätsmärkte“ zum Anreizen von Kraftwerksinvestitionen aus. In Kapazitätsmärkten werden Betreiber bereits für das reine Vorhalten von Erzeugungsanlagen entgolten, selbst wenn sie keinen Strom produzieren. Stattdessen wurde ein „Strommarkt 2.0“ präferiert, auf dem im „Energy-Only-Market“ (EOM) nur wirklich erzeugter Strom vergütet wird, weil dies kostengünstiger sei und dennoch Versorgungssicherheit gewährleiste. Das EOM-Konzept setzt auf die „Selbstheilungskräfte“ von Märkten: Entsteht auf einem Markt ein Engpass, treibt das die Absatzpreise nach oben. Bereits etablierte Anbieter erzielen außergewöhnlich hohe Profite. Das lockt neue Produzenten in den Markt, dadurch verfallen die Preise so lange, bis sich die Renditen wieder normalisiert haben. Rationale Akteure sehen dabei drohende Engpässe und Preiserhöhungen sogar vorher und investieren vorzeitig, sodass Engpässe – allein getrieben durch die Hoffnung auf hohe Gewinne – vermieden werden. Dabei müsste Investoren lediglich garantiert werden, dass engpassbedingte Preise sich am Markt auch durchsetzen können und nicht politisch „gedeckelt“ werden. Aus mehreren Gründen erscheint diese Marktgläubigkeit aber zumindest im EOM-Spotmarkt bzw. kurz- bis mittelfristigen Terminmarkt – also ohne langfristige Lieferverträge – als überoptimistisch.

… und das Prinzip Hoffnung

Ex ante ist für jede privatwirtschaftliche Investition ausschlaggebend, dass zumindest mit einer Vollkostendeckung gerechnet werden kann. Dabei stellt sich einzelwirtschaftlich gerade in einer derart außergewöhnlichen Umbruchphase das Problem erheblicher Kalkulationsunsicherheiten. Zur Verdeutlichung wird in Tabelle 3 eine Grobkalkulation für perspektivische Investitionen in kleine H2-Kraftwerke und für baldige (H2-ready-)Investitionen in größere Erdgaskraftwerke bzw. für kleinere Erdgas-Turbinen-Kraftwerke unter der Prämisse aufgestellt, dass die Anlagen, wie im Normszenario ermittelt, 1.600 Volllaststunden im Jahr Strom produzieren. Die Fokussierung auf kleine H2-Kraftwerke resultiert aus der Annahme, dass diese Anlagen eher dezentral und möglichst nah am Verbraucher positioniert werden. Denn gerade kleine Kraftwerke wären eine naheliegende Option für die gleichzeitig zu vollziehende Wärmewende. Werden die Kraftwerke in Kraftwärmekoppelung (KWK) betrieben, ließe sich über Quartierslösungen die Abwärme aus der Stromerzeugung durch ein Nahwärmenetz zur Wärmeversorgung einsetzen. Zugrunde gelegt wurden aktuelle Preise für CO2-Zertifikate und Wasserstoff bzw. Erdgas. Betreiber neuer größerer Erdgaskraftwerke benötigen demnach derzeit zur Vollkostendeckung (inklusive der angesetzten kalkulatorischen Eigenkapitalverzinsung) rund 130 Euro/MWh. Beim Betrieb von Gasturbinen wären rund 150 Euro/MWh und bei kleinen H2-Kraftwerken ca. 540 Euro/MWh zu veranschlagen. Allerdings hängt diese Rechnung stark von den nur schwer zu prognostizierenden Einsatzzeiten, den Brennstoffkosten und – bei den fossilen Kraftwerken – von den CO2-Zertifikatepreisen ab.

Tabelle 3
Gestehungskostenrechnung H2-(ready-)Kraftwerk
    H2-Gas-Turbine Erdgas-Turbine Erdgas-GuD-Kraftwerk
Fixkosten Investitionsausgaben (Mio. Euro)a 60 90 450
Leistung (MW(el)) 50 200 500
Spezifische Investitionskosten (Mio. Euro/MW(el)) 1,2 0,5 0,9
Zinssatz (als WACC in %)b 8,7 5,8 5,8
kalkulierte Betriebszeit (Jahre) 30 30 30
Annuität nachschüssig (Mio. Euro/Jahr) 5,69 6,4 32
jährliche Volllaststunden (Stunden/Jahr) 1.600 1.600 1.600
produzierte Strommenge (MWh(el)/Jahr) 80.000 320.000 800.000
Kapitalkosten (Euro/MWh(el) = Annuität/Strommenge) 71 20 40
Fixe Betriebskosten (Euro)ª 1.000.000 4.000.000 10.000.000
Fixe Betriebskosten (Euro/MWh(el)) 13 13 13
Fixkosten gesamt (Euro/MWh(el)) 84 32 52
Grenzkosten/MWh (elektrisch) Brennstoffkosten Euro/MWh(th)c 180 32 32
Wirkungsgrad 40 40 60
Brennstoffkosten Euro/MWh(el) 450 80 53
verursachte t CO2-Emission je MWh(el)d 0,00 0,52 0,34
Zertifikatekosten Euro/t CO2 75 75 75
CO2-Kosten Euro/MWh(el) 0 39 25
Transportkosten Euro/MWh(el)e 1,30 1,30 0,80
Sonstige variable Betriebskosten (Roh-, Hilfs-, Betriebsstoffe) (Euro/MWh(el))e 1,00 1,00 1,50
Grenzkosten gesamt (Euro/MWh(el)) 452 121 81
Gestehungskosten (Euro/MWh(el)) 536 153 133

Quellen: a Fraunhofer ISE (2021, 11 f.); H2-Gas-Turbine geschätzt;  b 30 % Eigenkapitalfinanzierung zu Zinssatz von 15 % bzw. 10 % und 70 % Fremdkapitalfinanzierung zu 6 % bzw. 4 % (Zinsunterschiede wegen Risikozuschlag bei H2-Kraftwerken),  c H2-Preis aus Prognos (2023);  d Umweltbundesamt, CO2-Emissionsfaktoren für fossile Brennstoffe, umgerechnet,  e EWI, Merit Order Tool 2022 (Für H2 dieselben Kosten wie für Erdgasturbine unterstellt); und eigene Auswertung.

Zwar lagen 2022 angesichts hoher Erdgaspreise die Strompreise an der Börse in über 1.200 Stunden über 400 EUR/MWh und in fast 500 Stunden sogar über 500 EUR/MWh. Aber den Investoren fehlt – sowohl kurzfristig in (H2-ready-)Erdgaskraftwerken als auch langfristig in H2-Kraftwerken – in vielerlei Hinsicht eine ausreichend zuverlässige Basis für eine angesichts der langen Laufzeiten von Kraftwerken üblicherweise weit vorausschauende Wirtschaftlichkeitsrechnung.

Mit Blick auf den einzusetzenden Brennstoff ergeben sich zahlreiche Unsicherheiten. In der Übergangsphase werden Back-up-Kapazitäten zunächst noch auf Erdgasbasis betrieben. Unbekannt ist, ob angesichts des Ukrainekriegs überhaupt ausreichend Erd- oder Flüssiggas verfügbar und zu welchen Preisen das der Fall sein wird. Unklar ist auch, wie häufig die Kraftwerke in der Zeit, in der sie die Brückentechnologie darstellen und in der noch nicht alle Kohlekraftwerke abgeschaltet sind, benötigt werden. Zudem liegen nur geringe Erfahrungen zur späteren Umrüstung und den damit verbundenen Kosten vor. In der Endphase der Transformation sollen alle Gaskraftwerke mit Wasserstoff betrieben werden. Das setzt voraus, dass überhaupt ausreichend Wasserstoff verfügbar ist und eine ausreichende Transport- und Speicherinfrastruktur besteht. Fraglich für die Wirtschaftlichkeitsrechnung ist auch der Preis, der zukünftig für Wasserstoff zu bezahlen ist.

Weitere Unsicherheiten bestehen mit Blick auf die Einsatzzeiten. Je weniger Volllaststunden die Kraftwerke verbuchen können, umso höher werden die Fixkosten je MWh sein und umso höher müssten in den Einsatzphasen die Deckungsbeiträge ausfallen, um den Kraftwerksbetrieb auch im Nachhinein rentierlich erscheinen zu lassen. Eine wichtige Rolle spielt hierbei, in welchem Umfang die in Tabelle 2 aufgeführten Spitzenlastoptionen zukünftig mobilisiert werden können: Welche Potenziale stecken im Lastenmanagement? Und vor allem welche Potenziale stecken im Stromimport? Diesbezüglich ist relevant, welche Importkapazitäten verfügbar wären, und zu welchem Preis der Auslandsstrom im Inland angeboten wird. In Anbetracht der Ausbaupläne von Kernkraftwerken, insbesondere in Frankreich, wäre dann bei hohen Importkapazitäten aus Sicht von inländischen H2-Kraftwerksinvestoren zu befürchten, dass ihr Strom durch Atomstrom aus dem Ausland verdrängt wird.

Die verbleibenden Einsatzzeiten für H2-(ready)-Kraftwerke hängen auch von der Entwicklung der zukünftigen Stromnachfrage ab. Je geringer sie am Ende gegenüber den ursprünglichen und in dieser Simulation unterstellten Erwartungen ausfällt, umso größer ist die Gefahr von Überkapazitäten und damit das Risiko, in Investitionsruinen zu investieren. Schwer abschätzbar ist dabei, in welchem Umfang der Elektrifizierungstrend in anderen Sektoren die Stromnachfrage tatsächlich nach oben treiben wird und welche Potenziale noch in Energieeffizienzmaßnahmen stecken.

Sollten die Kraftwerke in KWK betrieben werden, dann ließen sich zwar neben Erlösen aus dem Stromverkauf weitere Einnahmen aus der Wärmevermarktung erzielen. Allerdings setzt dies zum einen voraus, dass eine entsprechende integrierte kommunale Wärmeplanung vorliegt und die Wärmenetze zügig ausgebaut werden. Zum anderen resultierte aus dem Kraftwerkseinsatz für die Wärmeversorgung ein neues Grundsatzproblem. In den Phasen von Stromeinspeiseüberschüssen durch EE würden die H2-Kraftwerke nicht mehr benötigt werden. Bezogen auf die Wärmeversorgung haben sie aber einen „Must-Run-Charakter“, da ihr Abschalten die Wärmeversorgung unterbrechen würde. Sofern die H2-Kraftwerke in diesen Phasen nicht abgeschaltet werden, verschärft sich die Problematik, die Stromüberschüsse zu neutralisieren.

Um allein den Markt ausreichend Investitionsanreize setzen zu lassen, müssten Kraftwerksbetreiber in Engpass­phasen mit hohen Strompreisen belohnt werden. Das wird nur gelingen, wenn die Politik nicht in den Preismechanismus interveniert. Die Absichtsbekundung lag im Zusammenhang mit dem Bekenntnis zum „Strommarkt 2.0“ vor. Allerdings haben derartige Bekundungen oftmals eine kurze Überlebensdauer. Die Eingriffe in Form der Strom- und Gaspreisbremse sowie zur Abschöpfung von „Übergewinnen“ zeigen, wie sensibel die Politik bei zu großen Preisausschlägen in diesem Versorgungsbereich reagiert. So zutreffend die Argumente für diese Eingriffe auch gewesen sein mögen, für die Wirksamkeit eines EOM lieferten sie eher bedenkliche Signale an potenzielle Kraftwerksinvestoren, selbst wenn diese Interventionen nur den Endkundenmarkt betrafen.

Hinzu kommt eine branchenweite Interdependenzpro-
blematik: Die skizzierte Marktlogik zum Investitionsanreiz impliziert, dass rationale Akteure einer Selbsttäuschung unterliegen. Wenn nur ein einzelner Investor in Antizipation zukünftiger Engpässe die Kapazitäten (marginal) erweitert, beseitigt das die Unterversorgung nur partiell, die Absatzpreise werden auch nach dem Zubau überdurchschnittlich hoch sein und die Investition wird sich übermäßig rentieren. Wenn aber mehrere Investoren so denken, kommt es zu einem massiven Kapazitätsausbau mit entsprechender Rückkoppelung im Preis. Dabei sind abwechselnd folgende Situationen nach Abschluss des Transformationsprozesses denkbar:

  • Die Stromversorgung durch EE reicht aus. In diesen Phasen werden die H2-Kraftwerke nicht benötigt, sie erwirtschaften keine Beiträge zur Deckung der Fixkosten. Das ist nach unserer Simulation in über 7.000 Stunden/Jahr der Fall.
  • Die EE-Stromversorgung muss nur durch H2-Kraftwerke ergänzt werden. In der Zeit sind die H2-Kraftwerke die Grenz­anbieter, da sie in jedem Fall höhere Grenzkosten als die EE aufweisen. Bei dem vom EOM erhofften Vermeiden einer Unterversorgung ist kein Mark-Up-Pricing der H2-Kraftwerksbetreiber mit Überrenditen durchzusetzen. Es kommt am Markt zur Preis-Gleich-Grenzkosten-Regel, bei der der Marktpreis nur die Grenzkosten und damit – bei linearem Kostenverlauf – die variablen Durchschnittskosten des Grenzanbieters abdeckt. Nach der Modellrechnung in Tabelle 3 wäre das derzeit bei einem Preis von rund 450 Euro/MWh der Fall. Dann entstehen ebenfalls keine Deckungsbeiträge zum Kompensieren der Fixkosten und die Investition erweist sich im Nachhinein als unwirtschaftlich. Parallel könnten Importe einzelne nationale Anbieter verdrängen. Nur wenn der EOM nicht die Unterversorgung vermeidet, ließen sich Überrenditen erzielen. Dann hätte der EOM aber versagt, weil er eine Unterversorgung zugelassen hat.
  • Die Residuallast muss durch H2-Kraftwerke und die in Tabelle 2 aufgeführten Maßnahmen gedeckt werden. Stromimporte werden dann größtenteils im regulären Stromgroßhandel angeboten. Der Importstrom wird entweder durch EE, Kernkraftwerke oder ebenfalls H2-Kraftwerke produziert werden. Sofern die H2-Kraftwerke im Ausland nicht teurer produzieren als im Inland, weist keine dieser drei Option höhere Grenzkosten auf als die bei den deutschen H2-Kraftwerken. In dem Fall setzen die H2-Kraftwerke mit ihren Grenzkosten den Marktpreis. Erneut entstünden für hiesige Betreiber keine Deckungsbeiträge.

In diesem Umfeld kann der beobachtete Investitionsattentismus nicht überraschen. Angesichts der Investitionsvolumina steht betriebswirtschaftlich viel auf dem Spiel, zumal das Kapital nach einer Investition sehr langfristig gebunden ist. Zugleich sind aber die Unsicherheiten vielfältig und in Anbetracht des Aufbruchs in eine neue Versorgungswelt entsprechend hoch. Anders als in vielen anderen Märkten können sich Investoren kaum die Hoffnung machen, als Produzenten mit neuen und in der Regel effizienteren Produktionsanlagen eine günstigere Kostenstruktur als Grenz­anbieter mit älterem Sachkapital zu haben und wenigstens auf diesem Weg als inframarginaler Anbieter Deckungsbeiträge zu erzielen. Überdies würde aufgrund der Homogenität des Gutes Strom auch eine Marktsegmentierung nicht gelingen, um so Deckungsbeiträge zu erwirtschaften. Am Ende droht das „Missing-Money-Problem“, ein erwartbares Sitzenbleiben auf den Fixkosten. Die benötigte Kapazitätserweiterung findet nicht oder allenfalls unzureichend statt.

Investitionen erfordern schnelle Abkehr von der Marktgläubigkeit

Die Stromversorgungssicherheit ist zu zentral, um sie der gut begründeten Gefahr des Marktversagens auszusetzen. Zudem ist angesichts der Vorlaufzeiten – wenn die EE-Ausbauziele und der Kohleausstieg ernst gemeint sind – auch eine rasche Abkehr von einer naiven Marktgläubigkeit erforderlich. Die jüngst mit der EU-Kommission verhandelte Kraftwerksstrategie des BMWK (2023) weist in diese Richtung. Prinzipiell bieten sich folgende gegenseitig ergänzende Alternativen zum Anreizen von Investitionen an, die alle die realistische Aussicht für Kraftwerksinvestoren zur Vollkostendeckung (inklusive der kalkulatorischen Eigenkapitalrendite) beinhalten müssen:

  1. Forcieren langfristiger bilateraler Verträge: Große Stromkunden und -anbieter handeln untereinander vor der Investition langfristige Lieferverträge aus. Für die Abnehmer bietet es sich an, ein für sie reserviertes Kontingent über einen festen Abnahmevertrag abzusichern und den Rest möglicherweise über den regulären Markt zu beziehen. Kraftwerksbetreiber erhalten so absatzseitig Kalkulationssicherheit und müssten die Preise – im Rahmen ansonsten verbleibender Unsicherheiten – vollkostendeckend aushandeln. Die beziehenden Stromkunden erhalten ebenfalls Sicherheit über den Bezugspreis. Um aber auch physische Versorgungssicherheit über das vereinbarte Kontingent zu erhalten und nicht nur Teil eines großen, von vielen anderen Kraftwerken gespeisten Versorgungsnetzes zu sein, bedarf es dezentraler Strukturen, bei denen das kleine H2-Kraftwerk unmittelbar die Versorgung des Kunden organisiert.
  2. Ähnlich wie beim EE-Ausbau tragen deutlich erweiterte staatliche Fördermechanismen im Rahmen von Ausschreibungen für H2-Kraftwerke mit garantierten Abnahmepreisen dazu bei, das erhöhte Risiko zu kompensieren. Dies bildet den Kern der neuen Kraftwerkstrategie des BMWK. § 39 o und § 39 p EEG 2023 sehen diesen Ansatz als Art Pilotprojekt für „Wasserstoff-Sprinterkraftwerke“ im Umfang von 8,8 GW und für H2-ready-Erdgaskraftwerke im Umfang von bis zu 15 GW bis 2035 bereits vor. Details sollen bald in Konsultationen erörtert werden. Eine finale beihilferechtliche Genehmigung der EU-Kommission liegt zwar noch nicht vor, aber eine grundsätzliche Zustimmung.
  3. Bilden größerer Kapazitätsreserven: Die für die Stabilisierung der Stromversorgung zuständigen Netzbetreiber weiten außerhalb des regulären Strommarkts die attrahierten Kapazitäten aus, primär um Schwankungen in der Spitzenlast auszugleichen. Bereits das Bereitstellen der Kapazitäten wird hier vergütet. Zusätzlich erhalten die Betreiber auch für gelieferten Strom ein Entgelt.
  4. Zentraler Kapazitätsmarkt: Eine Regulierungsbehörde legt zentral den abzusichernden Bedarf an Kraftwerksleistung fest. Potenzielle Betreiber bieten ihre Leistung an und verpflichten sich zu deren jederzeitiger Bereitstellung in Langfristverträgen. Für das Vorhalten der Leistung wird ein Entgelt vereinbart. Die Kosten werden aus Steuern finanziert. Zudem können die Betreiber den erzeugten Strom am Markt verkaufen. Die Zuschläge an die jeweiligen Betreiber könnten – um die Kosten gering zu halten – über Auktionen einem Wettbewerbsprinzip zugänglich gemacht werden.
  5. Dezentraler Kapazitätsmarkt: Hier wird der Bedarf nicht direkt durch eine „allwissende Behörde“ festgelegt. Stattdessen müssen sich große Verbraucher über zu erwerbende und danach handelbare Leistungszertifikate die benötigten Kapazitäten von Kraftwerksbetreibern sichern. Zum Vermeiden einer Unterversorgung legt die Regulierungsbehörde Pönale fest. Verbraucher müssen diese immer dann bezahlen, wenn die benötigte Leistung nicht durch Zertifikate abgedeckt ist. Erzeuger müssen sie entrichten, wenn sie die versprochene Leistung im Bedarfsfall nicht anbieten können.

Da die Versorgungssicherheit ein öffentliches Gut ist und der Markt zu versagen droht, wäre im Prinzip aber auch ein staatliches Kraftwerksangebot denkbar. Allerdings dürfte dies politisch weder opportun noch in vertretbarer Zeit umsetzbar sein. Obendrein könnte hier durch die fehlende Wettbewerbskomponente das Problem des „Kostenschlendrians“ entstehen.
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Autoren: Löffler, M., Marquardt, R.-M,. „Wie viele Wasserstoff-Kraftwerke erfordert die Energiewende und wie erhalten wir sie?“, Wirtschaftsdienst, 103. Jahrgang., Heft 10, 2023, Seite 689-697, Literaturverweise siehe dort, als Open Access | CC BY 4.0 | DOI: 10.2478/wd-2023-0191

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