Staatenlosigkeit im deutschen Recht

Staatenlos ab Geburt –
Ein Plädoyer für die Einführung von subsidiärem ius soli

Die Ampel-Koalition packt derzeit die Modernisierung (und Liberalisierung) des Staatsangehörigkeitsgesetzes (StAG) an. Obwohl der Kabinettsentwurf aus August 2023, trotz gewisser Kritikwürdigkeit, viele richtige Neuerungen vorsieht, übersieht der Entwurf einen entscheidenden Punkt: Staatenlosigkeit.

Staatenlosigkeit

Eine Person ist de jure staatenlos, wenn sie keine Staatsangehörigkeit besitzt. So definiert z.B. Art. 1 Abs. 1 Übereinkommen über die Rechtsstellung der Staatenlosen den Begriff »Staatenloser« als »eine Person, die kein Staat auf Grund seines Rechtes als Staatsangehörigen ansieht«. Hiervon zu unterscheiden sind Menschen, die de facto staatenlos sind. Dies sind Menschen, die zwar formal eine Staatsangehörigkeit besitzen, aber von ihrem Heimatstaat weder Schutz noch Hilfe erlangen. Dieser Problemkreis wird im Folgenden ausgeklammert.

Staatenlosigkeit kann zum einen im Laufe des Lebens entstehen, indem ein Mensch mit nur einer Staatsangehörigkeit diese verliert. Hierbei ist die abwehrrechtliche Dimension von Grund- und Menschenrechten berührt. Diesbezüglich sieht Art. 16 Abs. 1 S. 2 GG vor, dass der Verlust der Staatsangehörigkeit gegen den Willen des Betroffenen nur dann eintreten darf, wenn der Betroffene dadurch nicht staatenlos wird. Obgleich hiervon eine Ausnahme für den Fall der erschlichenen Einbürgerung anerkannt ist, dürfte die Anzahl der Menschen, die aufgrund eines Verlustes der deutschen Staatsangehörigkeit staatenlos werden, sehr gering sein. Staatenlose Personen in Deutschland kommen entweder bereits staatenlos nach Deutschland oder – und um diesen Fall geht es im Folgenden – wurden in Deutschland staatenlos geboren.

Zum anderen kann Staatenlosigkeit schon ab Geburt bestehen, wenn die Person bei Geburt schlicht keine Staatsangehörigkeit erhält. Hier sind vier Fallgruppen relevant:

  1. Kinder, deren Eltern unbekannt sind (sog. Findelkinder);
  2. Kinder, deren Eltern staatenlos sind;
  3. Kinder, die aufgrund einer eingeschränkten Anwendung von ius soli (Geburtsortprinzip) oder ius sanguinis (Abstammungsprinzip) keine Staatsangehörigkeit erlangen und
  4. Kinder, die aufgrund einer uneinheitlichen Anwendung von ius soli und ius sanguinis keine Staatsangehörigkeit erlangen.

Diese Fälle betreffen eine (positive) Leistung des Staates in Form der Verleihung seiner Staatsangehörigkeit. Das Phänomen der Staatenlosigkeit ab Geburt ist auch in Deutschland statistisch relevant. Dies zeigen Zahlen des Statistischen Bundesamtes. So gab es in Deutschland zum Jahresende 2022 insgesamt 29.455 Menschen mit anerkannter Staatenlosigkeit. Davon waren 16,5 % (4.860 Menschen) in Deutschland geboren. Ausgeblendet wird an dieser Stelle die hohe Anzahl an Menschen mit ungeklärter Staatsangehörigkeit.

Staatenlose Menschen befinden sich – trotz Bemühungen, die negativen Folgen von Staatenlosigkeit zu vermindern – in einer prekären Situation. Sie müssen mit einem ständigen Gefühl der Unsicherheit leben, dürfen nicht wählen und sind in ihrer Reisefreiheit drastisch eingeschränkt. Aufgrund dieser negativen Folgen von Staatenlosigkeit gibt es zahlreiche internationale Bemühungen, Staatenlosigkeit zu verhindern, unter anderem durch die Verankerung eines Rechts auf eine Staatsangehörigkeit.

Das Recht auf eine Staatsangehörigkeit

Völkerrechtlich schreiben zahlreiche Abkommen das (Menschen-)Recht auf eine Staatsangehörigkeit in verschiedenen Ausprägungen fest Deutschland hat zahlreiche dieser Abkommen ratifiziert. So statuiert beispielsweise Art. 24 Abs. 3 UN-Zivilpakt (Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte [IPbpR]): »Jedes Kind hat das Recht, eine Staatsangehörigkeit zu erwerben.« Einschlägige Regelungen enthalten ferner Art. 1–4 Übereinkommen zur Verminderung von Staatenlosigkeit, Art. 7 Kinderrechtskonvention (KRK) und Art. 6 Abs. 2 Europäisches Übereinkommen über die Staatsangehörigkeit (EÜStA). Ferner wird man sogar annehmen können, dass das Recht auf eine Staatsangehörigkeit ab Geburt Völkergewohnheitsrecht darstellt. Verpflichtet wird durch diese Normen vor allem der Staat, in dem die Person geboren wurde.

Insgesamt ist man sich global einig, dass Staatenlosigkeit verhindert werden sollte. Jeder Staat sollte hierzu seinen Beitrag leisten. Auch Deutschland. Ein wichtiger Schritt hierzu wäre, dass Deutschland bei Geburt eintretende Staatenlosigkeit verhindert. Dies steht auch in Übereinstimmung mit dem Global Action Plan to End Statelessness des UN High Commissioner for Refugees (UNHCR), der in einem Good Practices Paper erklärt, dass Staaten sicherstellen sollen, dass kein Mensch staatenlos geboren wird.

Subsidiäres ius soli als praktikable Lösung

Derzeit ist die deutsche Rechtslage unnötig kompliziert. Regelungen zur Vermeidung von Staatenlosigkeit bei Geburt sind maßgeblich außerhalb des StAG in einem separaten Gesetz mit einem nicht gerade eingängigen Namen geregelt: Ausführungsgesetz zu dem Übereinkommen vom 30. August 1961 zur Verminderung der Staatenlosigkeit und zu dem Übereinkommen vom 13. September 1973 zur Verringerung der Fälle von Staatenlosigkeit (Gesetz zur Verminderung der Staatenlosigkeit [StaatenlMindÜbkAG]). Der maßgebliche Art. 2 StaatenlMindÜbkAG sieht keinen automatischen Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit vor, sondern enthält neben einem Antragserfordernis drei Positivvoraussetzungen und eine Negativvoraussetzung:

  1. Die Person muss in Deutschland oder an Bord eines Schiffes, das berechtigt ist, die Bundesflagge der Bundesrepublik Deutschland zu führen, oder in einem Luftfahrzeug, das das Staatszugehörigkeitszeichen der Bundesrepublik Deutschland führt, geboren sein,
  2. seit fünf Jahren rechtmäßig ihren dauernden Aufenthalt in Deutschland haben,
  3. den Antrag vor der Vollendung des einundzwanzigsten Lebensjahres stellen und
  4. darf nicht rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von fünf Jahren oder mehr verurteilt worden sein.

Diese komplizierte und restriktive Regelung führt in der Praxis dazu, dass es weiterhin zahlreiche staatenlose Menschen in Deutschland gibt, obwohl sie in Deutschland geboren wurden und auch keine andere Staatsangehörigkeit bei Geburt erworben haben.

Für Findelkinder findet sich dagegen eine Norm in § 4 Abs. 2 StAG, die fiktives ius sanguinis festschreibt: Für Kinder, die im Inland aufgefunden werden, wird die Abstammung von einem deutschen Staatsangehörigen (bis zum Beweis des Gegenteils) fingiert. Dadurch greift die allgemeine ius-sanguinis-Regelung des § 4 Abs. 1 S. 1 StAG und Findelkinder erwerben die deutsche Staatsangehörigkeit. Um aber Staatenlosigkeit in den übrigen Fällen effektiv zu begegnen, sollte Deutschland subsidiäres ius soli einführen. Hierbei handelt es sich um eine eingeschränkte Form von ius soli, also dem Geburtsortprinzip. Nach diesem Prinzip erhält eine Person die Staatsangehörigkeit des Staates, in dem sie geboren wurde. Deutschland kennt eine solche Regelung bereits in eingeschränkter Form in § 4 Abs. 3 StAG. Im Falle des subsidiären ius soli greift das Geburtsortprinzip allerdings nur subsidiär für den Fall, dass die betreffende Person bei Geburt keine andere Staatsangehörigkeit erhält.

Systematisch am richtigen Ort wäre eine solche subsidiäre ius-soli-Regelung in § 4 StAG, schließlich regelt diese Norm alle übrigen Fälle des Staatsangehörigkeitserwerbs durch Geburt. Konkret sollte § 4 StAG durch einen Absatz mit folgendem Wortlaut ergänzt werden:

»Durch die Geburt im Inland oder an Bord eines Schiffes, das berechtigt ist, die Bundesflagge der Bundesrepublik Deutschland zu führen, oder in einem Luftfahrzeug, das das Staatszugehörigkeitszeichen der Bundesrepublik Deutschland führt, erwirbt ein Kind die deutsche Staatsangehörigkeit, wenn es ansonsten staatenlos würde.«

Eine inhaltsgleiche Regelung wurde z.B. auch von dem Verein Statefree, der sich für die Rechte staatenloser Menschen einsetzt, in seiner Stellungnahme zum Referentenentwurf aus Mai 2023 vorgeschlagen.

Eine solche Regelung würde effektiv verhindern, dass in Deutschland geborene Menschen bei Geburt keine Staatsangehörigkeit erhalten. Deutschland würde dadurch mit vielen anderen Staaten gleichziehen und einen richtigen Schritt in Richtung Bekämpfung von Staatenlosigkeit gehen. Überdies würde eine solche Regelung der »verfassungsrechtlichen Wertentscheidung« von Art. 16 Abs. 1 S. 2 GG entsprechen, nämlich den Eintritt von Staatenlosigkeit nach Möglichkeit zu verhindern.

Fazit

Die Ampel-Koalition möchte ihrem Koalitionsvertrag nach ein »modernes Staatsangehörigkeitsrecht« schaffen. Wenn sie dieses Ziel ernst meint, sollte sie ein menschenrechtsfreundliches Gesetz beschließen und somit auch das Recht des Einzelnen auf eine Staatsangehörigkeit in den Blick nehmen. Hierzu sollte neben den bereits im Referenten-Entwurf enthaltenen Neuerungen auch die Bekämpfung von Staatenlosigkeit adressiert werden. Dies bedingt mindestens die Einführung von subsidiärem ius soli für ansonsten staatenlose Menschen.
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Autor: Hoffmann, Patrick R.: „Staatenlos ab Geburt: Ein Plädoyer für die Einführung von subsidiärem ius soli“, VerfBlog, 2023/11/08, https://verfassungsblog.de/staatenlos-ab-geburt/, Anmerkungen und Literaturverweise siehe dort, als Open Access | CC BY-SA | DOI: 10.59704/9bae172b76ae7770

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