EU-Emissionshandel
– Reform und Bewertung
Die stille Transformation
– Zur Novelle der Emissionshandelsrichtlinie 2003/87/EU (EHRL)
Wie funktioniert der EU-Emissionshandel?
Die Grundidee des EU-Emissionshandels nach der EHRL ist simpel. Der Staat, hier die EU, legt jeweils periodenbezogen fest, wie viel t CO2 die erfassten Akteure insgesamt emittieren dürfen. Diese Gesamtmenge nennt man das „Cap“. Die Gesamtmenge wird nun in elektronischen Zertifikaten verkörpert. Für jede t CO2, die in der EU legal emittiert werden darf, gibt es also ein (nummeriertes) Zertifikat.
Die Zertifikate werden auf die Mitgliedstaaten aufgeteilt, aber diese Aufteilung hat im Wesentlichen nur eine finanzielle Funktion. Die Mitgliedstaaten versteigern nämlich den größten Teil dieses Schatzes. Ein im Vergleich kleinerer Teil wird noch nach europaweit einheitlichen Regeln kostenlos zugeteilt. Die so auf den Markt gelangten Zertifikate sind aber in der ganzen EU handel- und nutzbar. Die erfassten Akteure – aber auch jeder andere, wie etwa Banken und Händler – können sie kaufen. Es handelt sich also auf der einen Seite um ein börsengehandeltes Gut wie jedes andere, dessen Preis nicht staatlich festgelegt wird, sondern der sich an der Börse entlang von Angebot und Nachfrage bildet. Derzeit schwankt der Preis zwischen 90 und 100 EUR. Da jedes Jahr weniger Zertifikate ausgegeben werden, werden diese absehbar immer teurer.
Auf der anderen Seite haben diese Zertifikate eine öffentlich-rechtliche Funktion. Es sind Genehmigungen, die die Emission jeweils einer emittierten t CO2 legalisieren. Unternehmen, die in den Anwendungsbereich des Emissionshandels fallen, müssen deswegen jedes Jahr zum 1. März einen Bericht an die jeweils zuständige nationale Behörde erstatten, in dem sie die Menge emittierter Treibhausgase berichten, und zwei Monate später eine entsprechende Anzahl von Zertifikaten an die nationale Behörde abführen, die sie vorher gekauft haben oder die ihnen nach europaweit einheitlichen Regeln kostenlos zugeteilt wurden. Kommen sie dem nicht nach, so wird neben der Abgabepflicht eine Strafzahlung von 100 EUR pro verspätetem oder ausgebliebenen Zertifikat fällig. Bei Emissionen im sechsstelligen Bereich schon bei einer nur mittelgroßen Industrie- oder Kraftwerksanlage würde ein solches Versehen ein Unternehmen normalerweise ruinieren.
Durch die Mengenbegrenzung ist gesichert, dass maximal so viel emittiert werden kann, wie vorher festgelegt wurde. Die wichtigste Zahl im Emissionshandel ist also allein das Cap, alle weiteren Detailregelungen machen den EU-Emissionshandel funktioneller, stabiler, vielleicht gerechter, sie sind aber an sich klimaschutzneutral. Die mit Abstand interessanteste Zahl bei jeder Neuregelung ist also die fortschreitende Verknappung der Zertifikate durch die Verkleinerung des Caps in jährlichen Schritten, dem sog. „linearen Faktor“.
Diese Minderung durch Verknappung zieht aber – so das Modell – keinen Verzicht auf Produktion und damit eine Wohlstandsminderung nach sich. Unternehmen werden durch die Verteuerung der Produktion durch den Zusatzfaktor Zertifikat vielmehr motiviert, zur Vermeidung immer weiter steigender Kosten in emissionsärmere oder -freie Technologien zu investieren.
Der Emissionshandel wird größer!
Heute beteiligen sich in der EU rund 11.000 Industrieanlagen und Kraftwerke am Emissionshandel, außerdem gibt es ein separates System für europäische Flüge, das allerdings nur rund 2% der insgesamt erfassten Emissionen des ETS ausmacht. Künftig wird der Emissionshandel aber schlagartig deutlich größer: Zum einen wird die Seeschifffahrt einbezogen. Zum anderen sollen ab 2027 künftig auch Verkehr und Gebäude einbezogen werden. Auch die Abfallverbrennung soll künftig dem Emissionshandel unterliegen, aber das können die Mitgliedstaaten bis ins Jahr 2030 aufschieben.
Mit Verkehr und Gebäude kommen nun die beiden großen Sektoren ins System, die bisher zumindest auf EU-Ebene nicht durch eine Höchstmengenbegrenzung reguliert wurden. Anknüpfungspunkt dieses ETS II wird nicht – wie im bestehenden Emissionshandelssystem – der einzelne Emittent sein. Statt dessen werden (wie heute schon im BEHG) die Lieferanten von Benzin, Diesel, Heizöl, Erdgas und anderen fossilen Brenn- und Treibstoffen zu Berichterstattung und Abgabe verpflichtet. Diese beaufschlagen dann die Brenn- und Treibstoffe beim Verkauf, so dass der Kauf fossiler Brenn- und Treibstoffe für Kunden immer weniger attraktiv wird.
Was ändert sich am Cap?
Aktuell schmilzt das Budget für die schon erfassten großen, genehmigungsbedürftigen Anlagen aus Industrie und Kraftwerkswirtschaft um jährlich 2,2%. Das Budget schrumpft also von 2021 bis 2025 um rund 10% gegenüber dem Vorniveau.
Diese allmähliche Verknappung des Caps nimmt künftig weiter Fahrt auf: Bis 2030 sollen die Emissionen insgesamt um 62% reduziert werden. Um dieses Ziel zu erreichen, wird von 2024 bis 2027 jedes Jahr das Budget um 4,3% abgesenkt. Ab 2028 wird die Abschmelzung auf 4,4% p. a. gesteigert. Damit findet die Verkleinerung um 10% künftig alle 2,5 Jahre statt. Bei gleichbleibendem Minderungspfad erreicht die Menge an ausgegebenen Zertifikaten 2040 damit die Nulllinie, so dass dann nur noch die Zertifikate aufgebraucht werden können, die schon im Umlauf sind.
Eine weitere Maßnahme ertüchtigt den anlagenbezogenen Emissionshandel schon seit 2019: Es gibt eine Art Bank unter Verwaltung der Europäischen Kommission, die Marktstabilitätsreserve. Wenn zu viele Emissionsberechtigungen im Umlauf sind, wird die ausgeschüttete Menge teilweise auf diesem Konto „zwischengeparkt“. Sind weniger als 400 Mio. im Umlauf, so dass die Preise in unerwünschtem Maße steigen, werden 100 Mio. aus der MSR ausgespeist.
Derzeit ist dieses Reservekonto prall gefüllt. Es gibt insgesamt also zu viele Berechtigungen. Die Gesamtmenge soll deswegen abgeschmolzen werden, so dass die Gesamtmenge an Zertifikaten sich insgesamt verringert; 2024 werden 90 Mio. gelöscht, 2026 weitere 27 Mio. Sie kommen also nie auf den Markt. Insgesamt findet im anlagenbezogenen Emissionshandel damit eine deutliche weitere Verknappung statt. Das heißt: Die Preise sollen und werden steigen.
Bei den – nicht konvertierbaren – Zertifikaten für Gebäude und Verkehr findet überhaupt erstmals eine Verknappung statt. Es gibt zwar mit dem deutschen Brennstoff-Emissionshandelsgesetz (BEHG) seit 2001 ein auf Deutschland begrenztes Emissionshandelssystem, allerdings sind im BEHG bisher keine absoluten Mengenbegrenzungen vorgesehen. Die Preise sind vorerst gesetzlich festgelegt. Das wird künftig anders aussehen: Die EHRL sieht ein festes Budget vor, das jedes Jahr erst um 5,1% sinkt, dann ab 2028 um 5,38% gegenüber 2025.
Was das für die Preise bedeutet, ist weitgehend offen. Die EHRL erklärt ein anfängliches Preisniveau von 45 EUR für erstrebenswert, allerdings ist diese Grenze durch keinen Mechanismus garantiert. Wenn die 45 EUR erreicht werden, kann die Kommission weitere Zertifikate auf den Markt bringen, die aus einer eigenen Marktstabilitätsreserve für den ETS II stammen. Diese ist aber endlich. Das heißt: Wenn die Verbraucher nicht vor 2027 ihre Emissionen senken, etwa durch begleitende Maßnahmen wie Regulierungen im Heizungs- oder Gebäudebereich, ist es wahrscheinlich, dass schon in den ersten Jahren deutlich höhere Preise entstehen. Dieser Zusammenhang wirft ein anderes Licht auf die aktuellen Debatten über ordnungsrechtliche Maßnahmen, die Druck von der Nachfrageseite nehmen würden.
Carbon Leakage
Das Problem jeder Regulierung emittierender produzierender Tätigkeiten ist die Gefahr, dass Anlagenbetreiber die EU verlassen oder dass Produkte außerhalb der EU günstiger, weil unreguliert, produziert und dann in die EU importiert werden, wo sie die einheimische Wirtschaft schwächen. In Summe werden Emissionen dann nicht verringert, sondern nur verlagert. Dieses Problem hat die EU bereits in der Vergangenheit erkannt und den Anlagenbetreibern in den betroffenen Branchen eine besonders hohe kostenlose Zuteilung zugestanden, als andere Branchen schon 0% oder nur 30% kostenlos per Verwaltungsakt zugeteilt bekommen haben. Manche Branchen erhielten auch direkte Zahlungen zum Ausgleich der emissionshandelsbedingt gestiegenen Stromkosten.
An diesen Zuteilungen soll zwar an sich festgehalten werden, sie sollen aber drastisch sinken. Nur noch rund 50% der aktuellen Zuteilungen soll es durch mehrere Detailänderungen 2030 noch geben. Zudem soll die Zuteilung künftig an qualitative Anforderungen geknüpft werden, die mittelfristig auf eine Dekarbonisierung des Standortes abzielen, unter anderem durch eine Aufwertung des Energieaudits, und eine Bonus-Malusregelung. Das schon in der Vergangenheit nicht immer unkomplizierte Zuteilungsverfahren wird also für diejenigen Unternehmen, die noch Ansprüche auf Zuteilungen haben, künftig keineswegs einfacher. Außerdem wird die Kommission die Zuteilungen auch der Höhe nach überarbeiten, indem sie die Standards best verfügbarer Technik überprüft.
Der Schutz der europäischen Industrie vor Emissionsverlagerungen soll künftig also nicht in erster Linie durch Entlastungen der europäischen Industrie organisiert werden, sondern vor allem durch einen CO2-Zoll an den Außengrenzen. Dieser sogenannte Carbon Border Adjustment Mechanism (CBAM) ist separat geregelt und soll durch eine äquivalente Belastung beim Import der erfassten Produkte dafür sorgen, dass es sich nicht lohnt, Europa zu verlassen und andernorts zu emittieren.
Wie ist die Reform zu bewerten?
In der deutschen Öffentlichkeit, auch der Fachöffentlichkeit, wurde die Novelle der EHRL kaum rezipiert. Stattdessen konzentriert sich die Debatte auf ordnungsrechtliche Instrumente. Diese Fokussierung wird dem Emissionshandel nicht gerecht. Denn allein schon die Erweiterungen des Instruments bei gleichzeitiger drastischer Verknappung der verfügbaren Emissionen werden sehr schnell tiefgreifende Verhaltensänderungen nicht nur von Unternehmen, sondern auch von Verbrauchern auslösen. Allein die jährlichen Verknappungen um mehr als 5% bei Gebäude und Verkehr führen sehr schnell zu einer Angebotsverknappung, die in drastisch steigende Preise münden muss.
Dass die Verbraucher die Tragweite dieser dynamischen Entwicklung nicht antizipieren, zeigt die Debatte um das neu zu fassende Gebäude-Energiegesetz, GEG: Die vermeintlich günstige Lösung einer neuen Gasheizung wird von vielen Verbrauchern nicht über den voraussichtlichen Verlauf der Kostenstruktur über die Lebenszeit der Anschaffung modelliert. Immerhin ist ein Teil der Einnahmen für soziale Zwecke vorgesehen, so dass es Mittel gibt, bei den anstehenden Technologiewechseln zu helfen.
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Autorin: Vollmer, Miriam: Die stille Transformation: Zur Novelle der Emissionshandelsrichtlinie 2003/87/EU, VerfBlog, 2023/5/04, https://verfassungsblog.de/die-stille-transformation/, ohne Einleitungsabsatz, als Open Access | CC BY-SA | DOI: 10.17176/20230504-204541-0.
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