Kompetenzen des BVerfG – offene Fragen zur Gewaltenteilung

Das letzte Wort?

Mit etwas zeitlichem Abstand werden die weitreichenden Folgen des Haushaltsurteils des Bundesverfassungsgerichtes sichtbar. Im Bundeshaushalt für 2024 müssen 17 Milliarden Euro und insgesamt 60 Milliarden Euro eingespart werden. Wichtige staatliche Investitionen in die Klimapolitik und die Infrastruktur werden ausbleiben, weil das Bundesverfassungsgericht am 15. November 2023 das Gesetz über den Zweiten Nachtragshaushalt 2021 mit dem Grundgesetz für unvereinbar und nichtig erklärt hat. Das Gericht genießt bei den Bürgerinnen und Bürgern zu Recht großes Vertrauen. Denn es ist ihm zu verdanken, dass die Artikel des Grundgesetzes nicht nur auf dem Papier stehen, sondern für die politische Kultur praktische Relevanz besitzen. Doch wie kann es sein, dass ein Verfassungsgericht einen solchen Einfluss auf die Gestaltung des Haushaltes hat?

Demokratieprinzip und richterliche Kompetenz

Das Urteil zeigt die Gefahren der Verfassungsgerichtsbarkeit für die Demokratie, die wir trotz der positiven Wirkung dieser Institution für die Herrschaft des Rechts im Blick behalten sollten. Die Gestaltungsfreiheit und Innovationskraft des demokratisch legitimierten Gesetzgebers können nämlich durch verfassungsgerichtliche Vorgaben zu sehr eingeengt werden. Die Politik verstärkt die Macht des Verfassungsgerichtes, wenn führungsschwache Regierungen auf Entscheidungshilfe aus Karlsruhe warten oder die Opposition unmittelbar nach einer Abstimmungsniederlage im Parlament ihre Politik mit verfassungsgerichtlichen Mitteln fortsetzt. Die Bundesverfassungsrichter wiederum tragen ihrerseits zu einer übermäßigen Verrechtlichung der Politik bei, wenn sie ihre Kompetenzen überschreiten.

Eine solche Überschreitung der richterlichen Kompetenz ist nach meiner These das Urteil zum Zweiten Nachtragshaushaltsgesetz 2021. Denn das Prinzip der Demokratie verlangt um so mehr richterliche Zurückhaltung, je weitreichender ein Urteil in die Gestaltung politischer Inhalte eingreift. Die Mitglieder des Bundesverfassungsgerichtes besitzen zwar die Autorität, die Verfassung verbindlich zu interpretieren, und ihre Entscheidungen gelten für die staatlichen Institutionen wie für die Bürger. Gleichwohl können sich auch Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes als falsch und in ihren Folgen als inakzeptabel herausstellen. Die Bundesverfassungsrichter haben eben nicht das letzte Wort, wie immer wieder behauptet wird. Denn sie können in einem neuen Urteil von einer früheren Interpretation des Grundgesetzes abweichen. Es war Jutta Limbach, von 1994 bis 2002 erste und bisher einzige Präsidentin des Bundesverfassungsgerichtes, die sich mit der Frage „Das letzte Wort?“ auseinandersetzte. Sie brachte es auf den Punkt: „Die Richter und Richterinnen sind bei all ihrer Sachkunde und Urteilsfähigkeit auch nur fehlbare Menschen und keine über allem schwebende Geschöpfe eines objektiven Weltgeistes. Ein oberstes, für die verbindliche Auslegung der Verfassung zuständiges Gericht muss befugt sein, später als unzutreffend erkannte oder auf falschen Vorstellungen beruhende Rechtsauffassungen zu korrigieren, wenn es erneut zu einer Entscheidung herausgefordert wird.“ Allein die Tatsache, dass „unzutreffende“ Rechtsauffassungen möglich sind, sollte das Bewusstsein für die Grenzen richterlicher Kompetenz und den Vorrang des Grundgesetzes vor der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes schärfen. Das Bundesverfassungsgericht betont selbst, dass es „Akte der gesetzgebenden Gewalt an der Verfassung … und nicht an verfassungsgerichtlichen Präjudizien zu messen hat.“

Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes ist das Zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2021 aus drei Gründen mit dem Grundgesetz unvereinbar und nichtig. Erstens fehle der Zusammenhang, juristisch der „Veranlassungszusammenhang“, zwischen der Corona-Pandemie einerseits und den mit dieser „außergewöhnlichen Notsituation“ begründeten Krediten für erfolgversprechende Maßnahmen zur Krisenbewältigung andererseits. Zweitens verstoße das Gesetz gegen das Prinzip, dass der Haushaltsplan für ein oder mehrere Rechnungsjahre, aber „nach Jahren getrennt“, durch das Haushaltsgesetz festzustellen ist. Und drittens sei das Gesetz verfassungswidrig, weil der Nachtragshaushalt erst nach Abschluss des Jahres beschlossen wurde, für das er gelten sollte.

Kritik der verfassungsgerichtlichen Argumentation

Das Argument, der Zusammenhang zwischen der Pandemie und den kreditfinanzierten Maßnahmen zur Überwindung der Krise seien im Gesetz nicht detailliert genug dargelegt, kann am wenigsten überzeugen. Es war durchaus sinnvoll, nicht genutzte Kreditermächtigungen in Höhe von 60 Milliarden Euro, die für die Bekämpfung der wirtschaftlichen Einbrüche durch die Corona-Pandemie im Haushaltsjahr 2021 gedacht waren, für zukünftige Investitionen an den Energie- und Klimafonds zu übertragen. Denn es blieb ja bei Wirtschaftsförderung als Mittel zur Überwindung der wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie. Das Bundesverfassungsgericht ist in der Beschreibung des Sachverhaltes ungenau. Die Bundesregierung wollte keineswegs, wie es im Urteil heißt, die „Förderung der pandemiebedingt geschwächten Wirtschaft mit einem weiteren politischen Anliegen – der Förderung von Klimaschutz, Transformation und Digitalisierung – … verbinden.“ Die Bundesregierung wollte vielmehr nach der Begründung des Gesetzes durch die wirtschaftliche Förderung u.a. des Klimaschutzes den coronabedingten Einbruch der Investitionen bekämpfen. Die staatlichen Investitionen in den Klimaschutz und in erneuerbare Energien sollten private Investitionen aktivieren und durch Planungssicherheit die Wirtschaft nachhaltig stärken.

Dem Bundesverfassungsgericht reichte die Begründung nicht aus. Je länger die Krise fortbestehe, so die Richter, desto detaillierter müsse der Gesetzgeber darlegen, „ob die von ihm in der Vergangenheit zur Überwindung der Notlage ergriffenen Maßnahmen tragfähig waren und ob er hieraus Schlüsse für die Geeignetheit künftiger Maßnahmen gezogen hat.“ In Krisen muss aber mit unwahrscheinlichen, nichtlinearen Verläufen gerechnet werden. Die Vergangenheit ist dann ein schlechter Ratgeber. In ihrem Urteil verlangen die Richter vom Gesetzgeber eine detaillierte Begründung für das Fortbestehen der Krise, eine Beschreibung der „messbaren Folgen“ der bisherigen Krisenpolitik und eine Prognose zum Beitrag der geplanten Maßnahmen zur Krisenbewältigung. Diese Forderungen gehen an der Realität vorbei. Weder lassen sich die Kosten der Krise exakt bestimmen noch die zukünftige wirtschaftliche Entwicklung vorhersagen.

Eine weitere Realität wird vom Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichtes nicht beachtet: Krisen als Folge außergewöhnlicher Notsituationen müssen mit einer langfristigen Perspektive bekämpft werden. Die traditionellen Regeln, dass Haushalte für einzelne Jahre getrennt aufzustellen (Prinzip der Jährlichkeit) und innerhalb eines Jahres umzusetzen sind (Prinzip der Jährigkeit), gilt es zu überdenken. Jens Südekum, der als Sachverständiger für Wirtschaftsfragen an der öffentlichen Anhörung im Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages und an der mündlichen Verhandlung des Bundesverfassungsgerichtes teilgenommen hat, plädierte für den Verzicht auf das „Jährlichkeitsprinzip“ in Krisensituationen. Es gelte, die Finanzierung staatlicher Investitionen „über mehrere Jahre sicherzustellen und somit die notwendige Planungssicherheit für komplementäre private Investitionstätigkeit zu gewährleisten.“ Nur auf diese Weise ließen sich die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie überwinden. Zu den notwendigen langfristigen Rahmenbedingungen der Krisenbekämpfung gehört auch die Bildung von Rücklagen in Sondervermögen wie dem Energie- und Klimafonds, die es ermöglichen, Kreditermächtigungen über mehrere Jahre hinweg abzurufen und wirksam einzusetzen. Auf die Argumente der Ökonomen gehen die Verfassungsrichter in ihrem Urteil jedoch nicht ein.

Kompetenzverteilung zwischen Gesetzgeber und Verfassungsgericht

Nun kann man nachvollziehen, dass sich die Richter nicht ausführlich mit den ökonomischen Zusammenhängen auseinandersetzen. Aber bei der Frage, wie weit die Kompetenzen des Verfassungsgerichtes im Bereich des Budgetrechts reichen, sieht es anders aus. Hier hätten die Richter sehr genau begründen müssen, weshalb sie die Kompetenz besitzen, den vom Bundestag mit Mehrheit verabschiedeten Nachtragshaushalt mit dem Grundgesetz für unvereinbar und nichtig zu erklären. Die Kompetenzverteilung zwischen Gesetzgeber und Verfassungsgericht muss in einer Demokratie den Aufgaben beider Institutionen gerecht werden. Nach dem Grundgesetz gehört die Verabschiedung des Haushaltsgesetzes zu den wichtigsten Aufgaben des Parlamentes, weil mit dem Haushalt die Prioritäten der Politik bestimmt werden. In den Geldbeträgen, die für einzelne staatliche Ausgaben vorgesehen sind, kommen politische Werte und inhaltliche Gewichtungen zum Ausdruck.

Die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit politischer Inhalte und Werte ist in Anknüpfung an John Elys Theorie eines demokratischen richterlichen Prüfungsrechts gerade nicht die Aufgabe eines Verfassungsgerichtes. Ein Schiedsrichter interveniere nur, wenn ein Team einen unfairen Vorteil erreicht, aber nicht, wenn das „falsche“ Team gewinnt. Genauso verhalte es sich mit einem Verfassungsgericht. Es müsse für die Einhaltung der demokratischen Verfahren sorgen, die Kanäle der Partizipation für alle politischen Gruppierungen auf einer gleichberechtigten Basis offenhalten, dürfe jedoch den politischen Inhalten nicht mit eigenen Wertungen gegenübertreten. Die Unterscheidung zwischen Verfahren und Inhalten ist sinnvoll, sollte jedoch für eine flexiblere Interpretation der Arbeitsteilung zwischen Gesetzgeber und Verfassungsgericht genutzt werden. Ein Verfassungsgericht, das effektiven Schutz der Verfassung gewährleisten will, kann Urteile über politische Inhalte und Werte nicht immer vermeiden. Das Grundgesetz enthält schließlich nicht nur die Verfahren des Regierens, sondern auch Grundrechte und demokratische Werte. Aber auf einer Skala von hoher bis zu geringer Kompetenz eines Verfassungsgerichtes sind Entscheidungen über Werte anders einzuordnen als Entscheidungen über Verfahren. Entscheiden die Gerichte über die Verfassungsmäßigkeit politischer Verfahren und Prozesse, dann sind ihre Kompetenzen groß. Entscheiden sie über die Verfassungsmäßigkeit politischer Inhalte und Werte, sind ihre Kompetenzen gering und verschieben sich zugunsten des Gesetzgebers.

Im hier diskutierten Fall des Nachtragshaushaltes spielen Verfahrensfragen zwar eine Rolle. Doch im Zentrum steht der Haushalt mit seinen politischen Inhalten. Richterliche Zurückhaltung wäre das verfassungsrechtliche Gebot gewesen. Statt dessen haben die Richter das Zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2021 nicht nur für verfassungswidrig, sondern auch für nichtig erklärt. Dabei hätte es andere Lösungen wie die Nichtigkeit ohne Rückwirkung oder die Gewährung einer Frist für die Korrektur des Gesetzes gegeben. Der kurze Abschnitt, in dem die Richter die rückwirkende Nichtigkeit des Gesetzes begründen, steht in diametralem Gegensatz zu den enormen politischen Konsequenzen der Entscheidung. „Nur vier Zeilen“, so Ulrich K. Preuß, ist dem Bundesverfassungsgericht die Begründung der Nichtigkeitserklärung wert.

Verantwortung des Gesetzgebers

Trotz der argumentativen Schwächen gilt nun erst einmal die Schuldenbremse in der Interpretation des Bundesverfassungsgerichtes. Also haben die Richter doch das letzte Wort? Da das Bundesverfassungsgericht auf Antrag tätig wird, ist ein Wandel der Rechtsprechung nur möglich, wenn eine bestimmte Frage der Verfassungsinterpretation ein weiteres Mal in Karlsruhe zur Entscheidung vorgelegt wird. Und auch hier sind die Überlegungen von Jutta Limbach noch immer aktuell: „Bei neuen Einsichten und sozialen Anforderungen ist das Bundesverfassungsgericht auf den Widerspruchsgeist des Gesetzgebers angewiesen. Dieser darf sich dadurch, dass das Gericht eine in Rede stehende gesetzliche Regelung bereits für verfassungswidrig erklärt hat, nicht um seine Lernbereitschaft bringen lassen.“ Es kommt jetzt also auf die Reaktion der Politik an. Es wäre sinnvoll, die Handlungsspielräume, die das Urteil lässt, zu nutzen. Nichts im Urteil des Bundesverfassungsgerichtes spricht gegen eine gut begründete Ausnahme von der Schuldenbremse. Auch eine Reform der Schuldenbremse ist denkbar. Die Ampelkoalition lässt jedoch den notwendigen Widerspruchsgeist vermissen. Lieber Knall auf Fall die Kaufprämie für Elektroautos stoppen und die Hilfen für die Solarenergie kürzen als nochmals eine Rüge vom Bundesverfassungsgericht einstecken zu müssen. Diese Angst, ein verfassungsgerichtliches Risiko einzugehen, schadet der Demokratie. Sie schadet auch dem Verfassungsrecht, weil sie die Offenheit des Grundgesetzes für neue Antworten auf den beschleunigten politischen und sozialen Wandel beeinträchtigt.
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Autorin: Landfried, Chr.: „Das letzte Wort?“, VerfBlog, 2024/1/06, https://verfassungsblog.de/das-letzte-wort/, Anmerkungen und Literaturverweise siehe dort, als Open Access | CC BY-SA | DOI: 10.59704/1dea772001c34e87

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