Im Vorfeld der Thüringer Landtagswahl 2024

In Thüringen nichts Neues –
Zur Wahl des Ministerpräsidenten und zum Vorschlag eines Vorabklärungsverfahrens

Zurzeit diskutiert Thüringen mal wieder intensiv über die Ministerpräsidentenwahl, genauer den dritten Wahlgang. Georg Maier (SPD), Innenminister in Thüringen, will die Verfassung seines Bundeslandes ändern, denn er will ausschließen, dass nach der nächsten Landtagswahl ein*e Ministerpräsident*in ins Amt kommt, der*die im dritten Wahlgang nur eine einzige Stimme erhalten hat, während alle anderen Abgeordneten gegen ihn oder sie votiert haben. Bodo Ramelow (Die Linke), Thüringens Ministerpräsident, hält eine solche Verfassungsänderung für „völlig überflüssig“.

Dieser Streit kommt nicht zufällig. Seinen Anlass findet er in einer Gesetzesinitiative der CDU-Fraktion im Thüringer Landtag zur Einführung eines verfassungsgerichtlichen „Vorabklärungsverfahrens“ und in einer Rede des amtierenden Präsidenten des Thüringer Verfassungsgerichtshofs, Dr. Klaus von der Weiden. Allerdings hätte der von der CDU eingebrachte Gesetzentwurf ganz andere als die erhofften Wirkungen, denn Vorgeschichte und Inhalt weisen den Gesetzentwurf als widersprüchlich und nicht zielführend aus. Mehr noch: Er gefährdet die Stellung des Verfassungsgerichtshofes in Thüringen.

Der Thüringer Verfassungsgerichtshof als Linienrichter?

Dr. Klaus von der Weiden ist nicht nur der amtierende Präsident des Thüringer Verfassungsgerichtshofes, sondern anscheinend auch Fußballfan. Jedenfalls wünschte er sich zum 30-jährigen Bestehen der Thüringer Verfassung am 25. Oktober 2023 den Verfassungsgerichtshof als „Schiedsrichter“, um die seiner Meinung nach ungeklärte Frage zu lösen, mit welcher Mehrheit ein Ministerpräsident gewählt werden kann, sollte es in einem dritten Wahlgang keine*n Gegenkandidat*in geben. Rechtssicherheit könne in dieser Frage nur hergestellt werden, wenn der Verfassungstext eindeutig formuliert werde oder der Thüringer Verfassungsgerichtshof vorab klären könne, was gemeint sei, mit den „meisten Stimmen“ in Art. 70 Abs. 3 Satz 3 der Thüringer Verfassung. „Elfmeter“, so Klaus von der Weiden in etwas schräger Diktion, „ist nun mal eben nur, wenn der Schiedsrichter pfeift, nicht wenn es ein Spieler, ein Trainer oder ein Zuschauer tut.“ Die CDU hat die Steilvorlage, die ihr von der Weiden in seiner Rede gegeben hat, aufgenommen und in einen Gesetzentwurf überführt, mit dem dem Verfassungsgerichtshof genau die Kompetenz verschafft werden soll, die Klaus von der Weiden sich wünschte: das Recht zur Vorabklärung. Sollte ein solches Verfahren eingeführt werden, wäre der Verfassungsgerichtshof jedoch nicht Schieds-, sondern bestenfalls Linienrichter.

Doch zuerst zur Vorgeschichte des Gesetzentwurfs. Bekanntlich ist die Wahl des Regierungschefs – ein konstitutiver Akt im deutschen parlamentarischen Regierungssystem – in Thüringen schwieriger als anderswo. Das hatte bisher politische Gründe und lag nicht an der verfassungsrechtlichen Ausgestaltung des Wahlverfahrens. Jedenfalls waren 2009, 2014 und 2019, als Ministerpräsidenten zu wählen waren, stets mindestens zwei Wahlgänge erforderlich; in der laufenden siebten Wahlperiode waren innerhalb weniger Wochen sogar zwei Inaugurationen nötig. Bei der am 5. Februar 2020 durchgeführten und hoch umstrittenen Wahl – viele sprachen von einem „Eklat“, nicht wenige von einem „Tabubruch“ – wurde der nur im dritten Wahlgang angetretene Thomas Kemmerich (FDP) mit den Stimmen von FDP, AfD und CDU mit 45 von 90 Stimmen zum neuen Ministerpräsidenten gewählt. Kemmerich blieb gerade einmal 28 Tage im Amt, davon 25 geschäftsführend, da er bereits drei Tage nach seiner Wahl, am 8. Februar 2020, wieder zurückgetreten ist (Landtag Thüringen, Drs. 2/275). Er wurde am 4. März 2020 durch Bodo Ramelow (Die Linke) abgelöst, der – fast möchte man sagen: „natürlich“ – erst im dritten Wahlgang mit 42 Ja-Stimmen bei 23 Nein-Stimmen und 20 Enthaltungen neuer Regierungschef des Freistaats Thüringen wurde. Seitdem führt Ramelow eine aus Linken, Grünen und SPD zusammengesetzte Minderheitsregierung, die auf die Unterstützung der CDU angewiesen ist. Wohlgemerkt, in keinem Fall gab es mehr Nein- als Ja-Stimmen für einen gewählten Kandidaten bzw. eine gewählte Kandidatin. Und in keinem Fall wurde die Wahl durch eine Organklage angefochten. Das Problem bei der Wahl eines*r Thüringer Ministerpräsidenten*in scheint offensichtlich darin zu liegen, bei komplizierten Mehrheitsverhältnissen, einer segmentierten Parteienlandschaft und den bestehenden Unvereinbarkeitsbeschlüssen der CDU die notwendige Anzahl an Stimmen zu mobilisieren. Oder kurz: Es ist ein politisches Problem.

Die CDU-Fraktion hat aus der skizzierten Problemlage jedoch ihre eigenen Schlussfolgerungen gezogen. Sie hat in den siebten Thüringer Landtag zwei Gesetzentwürfe eingebracht, um das Wahlverfahren rechtssicher auszugestalten. Mit der ersten Initiative vom 23. September 2020 will die CDU unter anderem präzisieren, was es mit der Formulierung „die meisten Stimmen“ in Art. 70 Abs. 3 Satz 3 auf sich hat. Zwei Lesarten sind möglich: Die Mindermeinung beharrt darauf, dass ein*e Kandidat*in im dritten Wahlgang auf jeden Fall mehr Ja- als Nein-Stimmen erhalten muss. Die herrschende Meinung will nur die Ja-Stimmen zählen. Dann wäre es sogar möglich, einen Ministerpräsidenten mit nur einer Ja-Stimme und 87 Neinstimmen zu wählen (der Thüringer Landtag hat mindestens 88 Mitglieder). Das in der Verfassung von Thüringen vorgesehene Meiststimmenverfahren zur Installierung einer Minderheitsregierung findet sich zudem wortgleich in anderen Landesverfassungen und im Grundgesetz, wobei bisher lediglich einmal ein*e Regierungschef*in ins Amt gekommen ist, der*die mehr Nein- als Ja-Stimmen erhalten hat: Friedrich-Wilhelm Lübke 1951 in Schleswig-Holstein. Unbeschadet dieser eher beruhigenden Befunde will die CDU einen Passus in die Verfassung aufnehmen, nach dem kein*e Bewerber*in gewählt werden kann, der*die im dritten Wahlgang mehr Nein- als Ja-Stimmen auf sich vereint. Angemerkt sei an dieser Stelle, dass die CDU bis 2014, also bis zur ersten Wahl Bodo Ramelows zum Ministerpräsidenten, in dem Meistimmenverfahren des Art. 70 Abs. 3 Satz 3 kein Problem gesehen hatte.

Die Thüringer Variante des Vorabklärungsverfahrens

Der Verfassungsausschuss scheint nach den durchgeführten Anhörungen im Dezember 2022 zu dem genannten Gesetzentwurf blockiert und hat bisher keine Beschlussempfehlung an das Plenum vorgelegt. Obschon die erste Initiative der CDU vom Landtag also noch nicht abschließend behandelt wurde, hat die CDU Ende November 2023 einen weiteren Gesetzentwurf eingebracht, der sich mit demselben Thema beschäftigt. Jetzt soll aber nicht mehr die Verfassung geändert, sondern der Verfassungsgerichtshof ermächtigt werden, Art. 70 Abs. 3 Satz 3 ThürVerf vorab abstrakt auszulegen. Der in das Gesetz über den Verfassungsgerichtshof einzufügende § 52b zum „Vorabklärungsverfahren“ lautet:

„Auf Antrag der im Organstreitverfahren und im abstrakten Normenkontrollverfahren Antragsberechtigten entscheidet der Verfassungsgerichtshof über die Auslegung der Artikel 50 und 70 der Verfassung des Freistaats Thüringen, sofern hierfür ein objektives Klärungsinteresse besteht.”

Inspiriert zu dem zweiten Gesetzentwurf hat die CDU die oben zitierte Rede des amtierenden Präsidenten des Thüringer Verfassungsgerichtshofes, Dr. Klaus von der Weiden, der wohl bereits 2018 von der CDU als Kandidat für das Amt des Präsidenten des Verfassungsgerichtshofes gehandelt worden war und seit Mai 2022 das oberste Gericht Thüringens präsidiert. Seinen „Wunsch“ nach einem Vorabklärungsverfahren hatte von der Weiden mit der „besonderen Situation einer Minderheitsregierung“ in Thüringen begründet. In einer solchen Situation sei es „besonders wichtig, dass insbesondere die Regularien für die Wahl des Ministerpräsidenten in der Verfassung unzweideutig geregelt oder durch einen Spruch des Landesverfassungsgerichts geklärt“ seien. Dabei genüge es nicht, die entsprechende Frage zu klären, „wenn sie sich im konkreten Fall stellt“. Diskussionswürdig in diesem Zusammenhang ist sicher schon, dass der Präsident des Verfassungsgerichtshofes und Richter des Bundesverwaltungsgerichts aktuelle Gesetzesinitiativen kommentiert und Vorschläge für Änderungen macht. Das verträgt sich schwerlich mit der Rolle eines Verfassungsrichters, der sich aus tagesaktuellen Auseinandersetzungen heraushalten sollte.

Der Gesetzentwurf weist zudem inhaltliche Widersprüche auf. Ähnliche Verfahren bestehen zwar in Bremen (interpretationsverfahren) und Hamburg (Feststellungsverfahren). Auch das Bundesverfassungsgericht konnte nach § 97 BVerfGG a.F. bis 1956 auf Anfrage des Bundespräsidenten Gutachten erstellen. Diese Kompetenzen waren bzw. sind jedoch allgemein und nicht auf einen einzigen Gegenstand beschränkt. Sie sind oder waren zeitlich und inhaltlich unspezifisch. Bei dem geplanten Vorabklärungsverfahren liegt aber weder das eine noch das andere vor: Es ist anlassbezogen und einmalig. Denn es verliert seinen Grund und seinen Gegenstand, sobald die Frage einmal geklärt wurde, weil dann kein „objektives Klärungsinteresse“ mehr vorliegen kann.

Einer Vorabklärung kommt zudem ein unklarer Status zu. Sie ist, wie in der Begründung zum Gesetzentwurf betont wird, „keine Entscheidung in der Sache“. Sie wäre mithin nichts weiter als ein Gutachten, das nicht bewirken kann, was von der Weiden sich „wünscht“ und die CDU für notwendig hält: eine verbindliche Entscheidung und damit Rechtssicherheit. Aus diesem Grund hat auch der Bundesgesetzgeber – auf Grundlage einer Stellungnahme des Bundesverfassungsgerichts – diese Verfahrensart 1956 aus dem Bundesverfassungsgerichtsgesetz gestrichen. Denn die „eigentliche Aufgabe der Justiz“ sei, so der Rechtsausschuss des Bundestages, die „Entscheidung von Streitfällen und nicht die Erstattung mehr oder weniger unverbindlicher Gutachten“.

Zugleich besteht die Gefahr, dass ein Vorabklärungsverfahren eine – inhaltliche – Selbstbindung der Richter begründet. Es ist schwer vorstellbar, dass der Verfassungsgerichtshof einem in einem Vorabklärungsverfahren erstellten „Gutachten“ nicht folgt, sollte er nach einer durchgeführten Wahl eines*r Ministerpräsidenten*in im Rahmen eines Organstreitverfahrens angerufen werden. Mehr noch: Es wirft die grundsätzliche Frage auf, inwieweit das Gericht dann überhaupt noch „entscheidet“, also einen verfassungsrechtlichen Tatbestand auslegt und auf einen Streitfall anwendet. In einem Vorabklärungsverfahren fehlt der Fall, auf den Verfassungsrecht anzuwenden wäre. Es führt zu keiner richterlichen Entscheidung. Einem Organstreitverfahren, das nach einer Wahl eines Ministerpräsidenten weiterhin möglich sein soll, fehlt der auslegungsfähige Tatbestand, weil der Interpretationsspielraum durch die Vorabklärung praktisch auf null reduziert wird. Die Kombination der beiden Verfahrensarten entleert damit die zentrale Kompetenz des Verfassungsgerichtshofes: in verfassungsrechtlichen Streitfällen zu entscheiden.

Andere Baustellen sind dringender

Der Gesetzentwurf der CDU-Fraktion gibt insgesamt Antworten auf Fragen, die sich gar nicht stellen. Das Problem ist nicht, eine Minderheitsregierung zu verhindern oder wie auch der Innenminister Thüringens, Georg Maier, inzwischen fordert, die Verfassung zu ändern, um zu verhindern, dass im dritten Wahlgang ein Kandidat mit nur einer einzigen Ja-Stimme und 87 Nein-Stimmen gewählt werden kann. Die bisherigen Schwierigkeiten bei der Wahl des Ministerpräsidenten in Thüringen waren politischer Natur und keineswegs Folge verfassungsrechtlicher Unklarheiten. Das wird auch bei der nächsten Wahl so sein. Ziel und erstes Anliegen verantwortlicher Politik in Thüringen muss derzeit sein, nach der Landtagswahl im September 2024 eine Regierung ohne und gegen die AfD bilden zu können. Das ist nach dem gegenwärtigen Stand der Dinge schwer genug. Denn nach aktuellen Umfragen würde die AfD im nächsten Landtag 35 von 88 Abgeordnete stellen; die CDU käme auf 23, Die Linke auf 21 und die SPD auf 9 Sitze. Hält die CDU an ihrem Unvereinbarkeitsbeschluss fest, weder mit der Linkspartei noch mit der AfD in irgendeiner Form zu kooperieren, käme der AfD eine Veto-Position zu, da Linke und SPD zusammen gerade einmal 30 Abgeordnete stellen würden. Dann könnte die AfD darüber entscheiden, wer nächster Ministerpräsident in Thüringen wird. In einem möglichen dritten Wahlgang hätte sie mit ihrer relativen Mehrheit sogar die Chance, Björn Höcke zum Ministerpräsidenten zu wählen. Es gilt daher, eine Minderheitsregierung ohne die AfD politisch möglich zu machen, nicht, sie rechtlich zu verhindern.
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Autor: Reutter, W.: „In Thüringen nichts Neues: Zur Wahl des Ministerpräsidenten und zum Vorschlag eines Vorabklärungsverfahrens“, VerfBlog, 2024/1/05, https://verfassungsblog.de/in-thuringen-nichts-neues/, Anmerkungen und Literaturverweise siehe dort, als Open Access | CC BY-SA | DOI: 10.59704/134d158e25eb6bc7

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