Rentenreform in Frankreich
– eine Demokratiefrage

Die Renten- als Demokratiedebatte
– Zu den Entscheidungen des französischen Conseil Constitutionnel vom 14. April 2023

Am Freitag hat der französische Verfassungsrat die Rentennovelle der Borne-Regierung im Wesentlichen nach präventiver Normenkontrolle bestätigt. Die Beanstandungen betreffen vor allem angeblich „sachfremde“ Regelungen in dem Gesetz, so etwa Maßnahmen zur Steigerung der Erwerbsquote älterer Menschen – gleichsam das spärliche soziale „Zuckerbrot“ im in erster Linie fiskalisch motivierten Paket der Regierung. Der zentrale Artikel zur Anhebung der Regelaltersgrenze auf 64 – mit einer anderen Bedeutung als im deutschen Rentensystem, da die Anhebung vornehmlich die früher arbeitenden, tendenziell schwachen Einkommensgruppen trifft – hat nach dem Urteil der „Weisen“ („Sages“) Bestand. Der Artikel 47.1 zur Debattenverkürzung in der Nationalversammlung sei nicht auf Notlagen beschränkt.

In einer zweiten Entscheidung verwarf der Verfassungsrat die Initiative der linken Opposition zu einem Referendum („RIP“) über das Rentenalter mit dem anfechtbaren Argument, es handele sich nicht um eine wirkliche „wirtschaftspolitische Reform“, sondern nur um eine Modifikation des geltenden Rentenregimes.

Es handelt sich um in doppelter Hinsicht erwartbare Entscheidungen: einerseits bezogen auf die bisherige Auslegung der streitigen formellen Verfassungsbestimmungen zum Verhältnis von Regierung und Parlament – um materielle Verfassungsfragen ging es kaum –, konkret den sogenannten „parlementarisme rationalisé“, der Parlamentsdebatten abschneidet; andererseits mit Blick auf die Geschichte des Verfassungsrats, die mit wenigen Ausnahmen eine solche größter Rücksichtnahme auf die anderen Staatsgewalten ist, und zwar insbesondere auf die Exekutive mit ihren speziellen französischen Prärogativen. Gleichzeitig neigt der Verfassungsrat seit deren Einführung zu einem äußerst engen Verständnis der noch recht jungen Vorschrift (von 2008/2015) über das vom Parlament initiierte Referendum.

Gleichwohl hatte es im Vorfeld nicht wenige Verfassungsrechtler:innen gegeben, die eine Verfassungswidrigkeit des Gesetzes annahmen und/oder ein Referendum für möglich hielten. Der Reformbegriff beim RIP wäre weniger anspruchsvoll konstruierbar gewesen. Zugleich ließ sich das Argument gut hören, dass so tiefgreifende Strukturänderungen wie in diesem Rentengesetz über eine bloße Ergänzung zum (jährlichen) Haushaltsgesetz („projet de loi de financement rectificative de la Sécurité sociale“) hinausgehen. Der Wortlaut der Normen selbst hätte beides zugelassen. Daher war doch eine gewisse Enttäuschung bei einigen Gegner:innen der Rentenreform – die demoskopisch etwa 70 Prozent der Bevölkerung bilden – durchaus erkennbar.

Der Hintergrund der verfassungsrechtlichen Kritik ist, dass die Regierung bei der Gesetzgebung zunächst das Verfahren im Parlament abgekürzt hat, weil ihr die (außerordentlich) vielen Änderungsanträge der Opposition lästig zu sein schienen. Dabei griff sie auf eine Klausel zurück, die für Ergänzungsgesetze zum Haushalt vorgesehen ist (Artikel 47.1). Ob es sich bei einer einschneidenden Rentengesetzgebung um eine solche bloße fiskalpolitische Ergänzungsregel handelt, kann allerdings zweifelhaft erscheinen.

Überdies kombinierte die Regierung schließlich in einer Art Anfall von Verzweiflung angesichts unklarer Mehrheitsverhältnisse in der Nationalversammlung diese Debattenverkürzung mit der schlechthinnigen Absage an eine Abstimmung der Abgeordneten: dem mittlerweile berüchtigten Artikel 49.3. Danach kann ein Gesetz auch ohne Sachabstimmung und folglich höchst indirekt angenommen werden. Mittels erst noch durch ein Zehntel der Abgeordneten zu beantragender Misstrauensabstimmung („motion de censure“) gegen die Regierung, bei der sich eine absolute Mehrheit der Abgeordneten für die Absetzung des Kabinetts der Premierministerin finden muss, kann sich das Parlament zwar wehren. Die Hürde ist in aller Regel jedoch (und bisher immer) zu hoch, so dass die Anwendung des „49.3“ einer Art Erzwingung des Gesetzes gleichkommt. Im jetzigen Fall fiel freilich selbst die Vertrauensabstimmung nur sehr knapp für die Regierung aus.

Gerne wird der Artikel 49.3 als „eine Art Staatsstreich“ oder „déni de démocratie“ (F. Hollande) eingestuft. Gleichwohl kam er vielfach zur Anwendung, besonders häufig unter sozialistischen Regierungen, die sich mit Wirtschafts- und Sozialgesetzen gegen ihren linken Parlamentsflügel durchsetzen wollten. Auch konservative Premierminister setzten das Instrument ein, etwa zur auch auf der Rechten unbeliebten Durchsetzung der Privatisierung öffentlicher Unternehmen in den 1990er Jahren. Der 49.3 darf pro Parlamentssitzungsperiode nur für ein Gesetz eingesetzt werden und ist vor dem Hintergrund der langsamen Entscheidungsprozesse in der IV. Republik zu lesen.

Die Entscheidungsbegründungen des Verfassungsrats wiederum sind fast sprichwörtlich dünn. Die Aufgabe derjenigen Rechtswissenschaftler:innen, die sich mit der doctrine auseinandersetzen, ist es, den Entscheidungen erst noch einen juristisch-„dogmatischen“ Sinn zu geben. Die Entscheidung vom Freitag lässt sich dabei vergleichsweise leicht einordnen. Die „Weisen“ scheuen sich, von der weit verbreiteten Deutung der V. Republik als Präsidialverfassung abzugehen und dem Parlament einen höheren Rang einzuräumen. Damit stellen sie sich gegen einen seit langem bestehenden öffentlichen Druck, das semi-präsidentielle System Frankreichs um stärker „horizontale“ Machtelemente zu ergänzen. Man muss ihnen juristisch Recht geben und darf sie zugleich politisch dafür kritisieren. Das System ist in seinem Kern, aber auch in seinen einzelnen Ausprägungen weit einseitiger präsidentialistisch und exekutiv orientiert als etwa das US-amerikanische. Der Mangel an institutionellen checks and balances aufgrund der unvollständigen regionalen Dezentralisierung seit den 1980er und der Synchronisierung der Präsidentschafts- mit den Parlamentswahlen in den 1990er Jahren bleibt trotz der Abkehr vom kruden Gaullismus bestehen. Der Verfassungsrat – obschon unter Beteiligung der beiden Legislativkammern erkoren – springt keineswegs ein und sieht darin auch nicht seine Aufgabe, nicht einmal nach seiner prozessrechtlichen Aufwertung durch Sarkozys Verfassungsreform. Die Verbarrikadierung seines Sitzes in der Rue de Montpensier am Palais Royal am Freitag stand sinnbildlich dafür, wie wenig sich der Verfassungsrat als Bürger:innengericht versteht – ganz im Gegensatz zur gern betonten transparenten Offenheit und dem entsprechenden proklamierten Selbstverständnis des Bundesverfassungsgerichts. Größere juristische Leistungen als die eher politisch und so kurzfristig wie akademisch grob entscheidenden „Weisen“ vollbringen in Frankreich nach allgemeiner Ansicht das Kassationsgericht und der Staatsrat (Conseil d´État). Und als politisches Gegengewicht zur institutionell übermächtigen Exekutive – selbst in Zeiten einer Minderheitsregierung wie seit der letzten Wahl – muss das Volk auf der Straße einspringen.

Die Protestsequenz

Das Volk hat von seiner in Frankreich auch staatsrechtlich stärker anerkannten Rolle als auf der „Straße“ auftretender demokratischer Souverän in der Causa der Rentengesetzgebung weidlich Gebrauch gemacht. So große Menschenmassen wie von Anfang des Jahres bis in den April hinein waren in Frankreich seit sehr vielen Jahren nicht mehr auf Demonstrationen unterwegs. Zugleich waren Ansätze zu einem politischen Generalstreik festzustellen. Die Beteiligung insbesondere in den Branchen des öffentlichen Dienstes, aber auch der wichtigen Rohstoffversorgung war durchaus beachtlich. Anknüpfen konnte man damit an vergangene erfolgreiche Mobilisierungen gegen neue Renten- und Arbeitsmarktgesetze. Auffällig war die starke Beteiligung in kleinen Städten der „Provinz“. Zudem gelang es zum ersten Mal seit langer Zeit, eine vereinigte Front der Gewerkschaften zu bilden, die sonst in Frankreich ein eher zerstrittenes Bild abgeben. Erst nach dem Einsatz des Artikel 49.3 nahm die Protestgewalt etwas zu – blieb aber weit unter dem Niveau früherer Protestwellen. Teils auch gerichtlich kritisiert wurden demgegenüber ab der zweiten Märzhälfte einige wenig transparente Versammlungsverbote und zahlreiche, so gut wie immer juristisch folgenlose Verhaftungen aufgrund bloßer Teilnahme an Protesten.

Die Gilets jaunes (Gelbwesten)-Monate hatten zwar weniger friedliche, aber nicht zahlenmäßig überlegene Proteste gesehen. Gleichwohl hatten die Gelbwesten seinerzeit Erfolg beim Präsidenten, während die überwiegend friedlichen Proteste dieses Jahres von der politischen Führung im Ergebnis vollständig ignoriert wurden. Das sendet demokratiepolitisch zweifelsohne ein höchst bedenkliches Signal aus. Die Bedenken wachsen noch, wenn man hinzuzieht, wie wenig sich die Regierung Mühe gegeben hat, ihr Projekt mit dem Parlament, aber auch mit den Gewerkschaften oder anderen sozialen Intermediären – den in Frankreich so genannten Akteuren der „sozialen Demokratie“ – abzustimmen. Einen wichtigen Aufruf zu mehr „sozialer Demokratie“ in der Rentenfrage, ausgehend von den Prinzipien der Befreiungsverfassung von 1946, hat der wichtigste Sozialrechtler des Landes, Alain Supiot, im März verfasst.

Der Eindruck, der Präsident und seine Regierung wollten mit dem Kopf durch die Wand, hat den großen Volkszorn erst heraufbeschworen. Der Präsident mag geglaubt haben, dass diese standfeste Haltung manchen Wähler:innen Respekt einflößt. Doch war das nicht nur wegen der überwältigenden Ablehnung in der Sache, sondern auch wegen des Wandels selbst der französischen Demokratie zu einer Selbstherrschaft des Volkes, in der das zunehmend gebildete und autoritätsskeptische Elektorat allerorten Horizontalität („Selbstrepräsentation“) einfordert, eine ganz trügerische Hoffnung. Möglicherweise hat zum vorläufigen Ende der Protestsequenz hin die Mobilisierung gerade auch der jungen Bevölkerung, die bei der Regierung regelmäßig am meisten Eindruck schindet, zu schnell wieder nachgelassen. Konkret waren die im Aufklärungsland Frankreich – wo man den Materialismus in der öffentlichen Debatte weniger scheut als in Deutschland – gern als „rapports de force“ bezeichneten politischen Verhältnisse nicht so, dass die Protestierenden sich letztlich durchzusetzen wussten. Ebenso konkret wächst nun aber das Ressentiment in ungekannte Höhen (oder Tiefen), und es ist unklar, wieviel politischen Kredit der Präsident – ohne Unterstützung einer echten, gesellschaftlich verankerten Partei – für weitere „Reformen“ überhaupt noch hat.

Legitimitätstheoretische Grundsatzfragen der französischen Verfassung

Diskutiert werden daher nun mehrere grundsätzliche Fragen, die die Zukunft der französischen konstitutionellen Demokratie betreffen.

Zuvörderst: Wie kann man die Rolle des Parlaments aufwerten? Kurzfristig scheint es unwahrscheinlich, dass sich hier etwas bewegt, denn der Präsident hat sich zu einer konfrontativen Strategie entschieden, und ein Großteil der Opposition in der Nationalversammlung – in Frankreich spricht man von „den Oppositionen“, weil sie politisch sowohl links wie rechts zu verorten sind – verhält sich intrainstitutionell nicht sonderlich konstruktiv und sucht eher das Bündnis mit der Straße. Manche singen dann eher die Marseillaise, statt seriöse eigene Gesetzesalternativen vorzulegen. Das ist zwar angesichts einer parlamentarischen (oppositionellen) „Tradition des Tumults“ und der Rolle politischer Leidenschaften in der Demokratie nicht von vornherein abzulehnen. Gleichwohl ist der neuerdings wieder häufige Einsatz solcher Mittel ein Anhaltspunkt für eine sich ausbreitende Distanz gegenüber den Formen des überhaupt noch bestehenden Rumpf-Parlamentarismus der V. Republik. Die radikale Rechte fällt durch weitgehendes Desinteresse an Sachfragen jenseits der Migrationskontrolle und überhaupt eine höflicher als früher, fast quietistisch daherkommende parlamentarische Arbeitsverweigerung auf, heimst aber zugleich die Stimmen der Unzufriedenen en masse ein; die Linke sucht zu großen Teilen eine Gegenmacht auf der Straße aufzubauen, weil sie einerseits (wie der gegenpräsidentielle und darin sehr mediendemokratische Volkstribun Mélenchon) noch unter dem Einfluss der Linkspopulismusstrategie von Mouffe/Laclau steht, also „das Volk“ gegen „die Elite“ ausspielen möchte, andererseits (wie linke Sozialist:innen, Grüne und Linkspartei LFI) durchaus ernsthaft und mit achtbaren Gründen in eine neue, eine VI. Republik will, die stärker dem bundesdeutschen parlamentarischen System ähneln und zugleich vermehrt auf „soziale“, durch gesellschaftliche Akteure wie Gewerkschaften vermittelte Demokratie und direktdemokratische Instrumente setzen würde.

An die Frage nach einer stärkeren Rolle des Parlaments schließt daher die nach einer grundlegenden Verfassungsreform unmittelbar an. Es ist innerhalb der V. Republik schwer vorstellbar, vom Semipräsidentialismus in einer konstruktiven Richtung abzurücken, selbst wenn nun eine Periode der Minderheitsherrschaft angebrochen ist. Mit einer „Cohabitation“, dem Zusammenwirken rechter Präsidenten mit linken Regierungen und umgekehrt, kommt das System noch leidlich zurecht; wenn allerdings „les oppositions“ keine konstruktive Gegenmehrheit bilden, bleibt entweder ein Weg mühsamsten Aushandelns oder das permanente präsidentielle „Durchregieren“. Beides ist verfassungsrechtlich möglich, aber politisch fast ausgeschlossen.

Einfacher würde das Regieren wohl erst durch eine vorerst unwahrscheinliche Renaissance der klassischen Teilung von vereinigter Linke und Einheit der Rechten. Der parteiabstinente „extreme Zentrismus“ Macrons, der sich besser als rechtsjakobinisch-bonapartistische Technokratie beschreiben lässt, hat sich rasend schnell abgenutzt. Es ist unterdes fast in Vergessenheit geraten, dass sozial verankerte Parteien(bündnisse) einen der wirksamsten, durchaus „anti-macronistischen“ Mechanismen der Machtkontrolle in der Demokratie darstellen.

Eine Alternative, die gerade Gertrude Lübbe-Wolff in einem neuen Buch („Demophobie“) mit beachtlichen Argumenten verteidigt, wäre die Stärkung direktdemokratischer Elemente. Geht es dabei allerdings nur um präsidentiell angeregte Referenden, wäre nichts gewonnen. Daher war es richtig, das RIP (Référendum d´initiative partagée) ins Spiel zu bringen, was der Verfassungsrat jedoch vorläufig untersagt hat. Dieses ist mit sehr hohen Hürden versehen – die Initiative muss parlamentarisch und zugleich von einem enormen Anteil der Bevölkerung getragen werden.

Erst eine neue Verfassungsreform könnte ein „RIC“ (Volksinitiative), also Direktdemokratie „von unten“ wie in deutschen Bundesländern oder Kommunen, einführen.

Der Verfassungsrat leistet jedenfalls keine Hilfe, indem er sich – juristisch schwer vorwerfbar – einem Formalismus verschreibt, der vorwiegend intern-systematisch motiviert ist und das positivrechtliche Präsidialsystem konsequent zu Ende denkt, externen Verfassungswandel jedoch ebenso konsequent ignoriert. Die Erwartungen eines immer gebildeteren und selbst­herrschaftlich-demokratischer eingestellten Volkes und einer zunehmend auf effizientes Regieren gepolten Staatsspitze driften ungehindert weiter auseinander. Daraus erwächst die viel beklagte Legitimitätskrise der V. Republik. Die Autoritätsstrategie eines exekutiven Voluntarismus scheint gescheitert und weist außerdem den Weg in eine Richtung, die bei der nächsten Wahl noch einige Sorgen bereiten dürfte.
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Autor:  Wihl, Tim: Die Renten- als Demokratiedebatte: Zu den Entscheidungen des französischen Conseil Constitutionnel vom 14. April 2023, VerfBlog, 2023/4/17, https://verfassungsblog.de/die-renten-als-demokratiedebatte/, mit Open Access | CC BY-SA

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