Klimakrise und Schuldenbremse – Konflikt und Argumente

Klimakrise und Schuldenbremse

Klimaschutz kostet Geld, viel Geld. Klimaneutralität ist ein großangelegtes Investitionsprogramm. Legt man die konservativen Abschätzungen zu Grunde, die Boston Consulting und Prognos schon vor einigen Jahren für den Bundesverband der Deutschen Industrie erstellt haben, sind in Deutschland jährliche Investitionen von mindestens 75 Milliarden Euro notwendig, wenn bis 2050 Klimaneutralität erreicht werden soll. Je länger die notwendigen Investitionen hinausgeschoben werden, desto höhere Kosten werden sie verursachen. Die öffentliche Hand muss private Investitionen anreizen und selbst öffentliche Investitionen tätigen. Die Grundrechte und Art. 20a GG verpflichten sie zu sofortigem Handeln. Das können viele Länder und Kommunen aus ihren laufenden Einnahmen nicht finanzieren. Die Aufnahme von Krediten ist ihnen zwar durch die Schuldenbremse in Art. 109 Abs. 3 GG grundsätzlich verboten. Die Klimakrise erfüllt aber die Voraussetzungen einer außergewöhnlichen Notsituation, in der zur Sicherung der Handlungsfähigkeit des Staates die Aufnahme von Krediten erlaubt ist. Von dieser Möglichkeit wird jetzt auch im Berliner Koalitionsvertrag Gebrauch gemacht.

Die Länder sind damit in einer viel schwierigeren Lage als der Bund. Er darf nach Art. 115 Abs. 2 Satz 2 GG Kredite in Höhe von 0,35 vom 100 im Verhältnis zum nominalen Bruttoinlandsprodukt aufnehmen, 2022 etwa 13,5 Milliarden Euro. Wenn ihm das nicht reicht, kann er sich durch eine Änderung des Grundgesetzes Handlungsspielraum verschaffen. So hat er jüngst Art. 87a GG um einen Abs. 1a ergänzt, der es dem Bund erlaubt, ein Sondervermögen für die Bundeswehr mit eigener Kreditermächtigung in Höhe von einmalig bis zu 100 Milliarden Euro zur Stärkung der Bündnis- und Verteidigungsfähigkeit zu errichten. Der Ausweg der Verfassungsänderung ist den Ländern versperrt, weil der Bund ihnen anders als sich selbst in Art. 109 Abs. 3 GG ein vollständiges Verbot der Kreditaufnahme auferlegt hat. Die Ungleichbehandlung der Länder im Vergleich zum Bund lässt sich dogmatisch nicht erklären. Sie beruht auf einer politischen Willensentscheidung des Bundes.

Verfassungspflicht zum Klimaschutz

Ob die Länder den Finanzbedarf zur Krisenbekämpfung decken, steht nicht in ihrem politischen Ermessen. Vielmehr verpflichtet Art. 20a GG nach dem Klimabeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 24. März 2021 Bund und Länder zum Klimaschutz und insbesondere zur Herstellung von Klimaneutralität. Die Grundrechte schützen als intertemporale Freiheitssicherung vor einer einseitigen Verlagerung der durch Art. 20a GG aufgegebenen Treibhausgasminderungslast in die Zukunft. Der Schutzauftrag der Verfassung schließt die Notwendigkeit ein, mit den natürlichen Lebensgrundlagen so sorgsam umzugehen und sie der Nachwelt in solchem Zustand zu hinterlassen, dass nachfolgende Generationen diese nicht nur um den Preis radikaler eigener Enthaltsamkeit weiter bewahren könnten. Die Schonung künftiger Freiheit verlangt, den Übergang zu Klimaneutralität rechtzeitig einzuleiten.

Praktische Konkordanz

Zwischen den grundrechtlichen Verpflichtungen und der verfassungsrechtlichen Schuldenbremse muss praktische Konkordanz hergestellt werden. Dafür lässt die Sonderregelung der Schuldenbremse für außergewöhnliche Notsituationen hinreichend Raum. Die Klimakrise, die gegenwärtig durch den Ukraine-Krieg und die akute Energiekrise in ihrer Wirkung als bedrohliche Störung der Wirtschafts- und Versorgungslage und exogener Schock verstärkt wird, begründen eine außergewöhnliche Notsituation. In dieser Situation dürfen die Länder ihre Handlungsfähigkeit ausnahmsweise durch die Aufnahme von Krediten sichern. Der verfassungsändernde Gesetzgeber hat in der Gesetzesbegründung ausdrücklich auch lange andauernde Kreditbedarfe, wie sie etwa durch die Wiedervereinigung Deutschlands ausgelöst worden sind, die bewusst nicht über Steuererhöhungen, sondern durch Kreditaufnahmen in gewaltiger Höhe finanziert worden ist, als außergewöhnliche Notsituationen im Sinne von Art. 109 Abs. 3 GG qualifiziert. Die aktuelle Krise entzieht sich der Kontrolle der Länder und beeinträchtigt deren Finanzlage erheblich.

Veranlassungszusammenhang

Durch Kredite finanziert werden dürfen Maßnahmen wie Klimaschutzinvestitionen, die zur Krisenbekämpfung geeignet und bestimmt sind (Veranlassungszusammenhang). Die Notwendigkeit und Angemessenheit der Kreditaufnahme zur Krisenbekämpfung, die zum Teil zusätzlich gefordert wären, sind auch gegeben. Zeitnahe Maßnahmen der Länder zur Bekämpfung der Klimakrise sind nach der Verfassungsrechtsprechung geboten und können nur durch Kredite finanziert werden. Die Kreditaufnahme ist auch angemessen, weil die finanziellen Lasten des Klimaschutzes zumindest auch von der gegenwärtigen Generation getragen werden müssen, die von den klimaschädlichen Handlungen profitiert hat und noch profitiert. Es gibt keinen Vorrang der Schuldenbremse vor dem verfassungsrechtlichen Gebot, die Klimakrise zeitnah zu bekämpfen. Ein solcher Vorrang lässt sich auch nicht mit der Verschonung künftiger Generationen von der Verpflichtung zur Rückzahlung jetzt aufgenommener Kredite rechtfertigen. Die Belastung künftiger Generationen mit den Lasten, die sich aus einer Verzögerung der Bekämpfung der Klimakrise ergeben, würde in Zukunft zu einer verfassungswidrigen Einschränkung der grundrechtlichen Freiheit führen und widerspricht deshalb den Grundrechten. Der Grundrechtsschutz wird nicht nach Maßgabe der Finanzverfassung beschränkt. Vielmehr ist die Finanzverfassung Folgeverfassung. Sie muss grundrechtsorientiert interpretiert werden. Das ist gerade bei der Schuldenbremse ohne weiteres möglich, weil die Handlungsfähigkeit der Länder durch die Ausnahme vom Verbot der Kreditaufnahme in außergewöhnlichen Notsituationen gewährleistet ist. Schulden des Staates lassen sich in überschaubarer Zeit zurückführen, wie die Reduzierung der Schuldenquote Deutschlands von über 80 Prozent 2013 auf weniger als 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts 2020 gezeigt hat.

Kipppunkte

Wenn in der Klimakrise Kipppunkte wie das Schmelzen des Eises im Südwesten Grönlands überschritten werden, wird der Meeresspiegel nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen stark steigen. Diese Entwicklung kann nie wieder rückgängig gemacht werden. Zur Verdeutlichung kann man Kipppunkte in der Klimaentwicklung mit der Verfestigung des flüssigen Eiweißes beim Kochen eines Hühnereis vergleichen: So wie festes Hühnereiweiß nie wieder flüssig werden kann, kann auch das Schmelzen der Gletscher Grönlands nie wieder rückgängig gemacht werden. Der Anstieg des Meeresspiegels wird auch in Deutschland über 3 Millionen Menschen in den Küstenländern wegen der unausweichlichen Überschwemmungen in Not bringen. Um das zu verhindern, müssen die Länder die Möglichkeiten zur Kreditaufnahme für die Finanzierung von Maßnahmen zur Bekämpfung der Klimakrise nutzen, die der Schutz der Grundrechte schon jetzt gebietet. Das ist mit der Schuldenbremse vereinbar. Die Länder dürfen und müssen von dem Spielraum Gebrauch machen, den die Verfassung für die Kreditaufnahme in einer außergewöhnlichen Notsituation eröffnet.
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Autor: Wieland, Joachim: Klimakrise und Schuldenbremse, VerfBlog, 2023/4/21, https://verfassungsblog.de/klimakrise-und-schuldenbremse/, mit Open Access | CC BY-SA | DOI: 10.17176/20230421-204507-0.

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