Die Grenzen des Sagbaren

Als Alexander Gauland (AfD) im Jahr 2018 der FAZ ein Interview gibt, wird dieses mit einem Zitat überschrieben: „Wir versuchen, die Grenzen des Sagbaren auszuweiten.“ Mit dieser sprachlichen Äußerung steckt Gauland in mehrfacher Weise seine Claims ab: Er formuliert nicht nur ein Programm, sondern unterstellt damit gleichzeitig, dass es Grenzen des Sagbaren gebe. Denn gäbe es sie nicht, müsste man erst gar nicht versuchen, sie „auszuweiten“. Und sieht man die Notwendigkeit zur Ausweitung, so werden diese Grenzen des Sagbaren offenbar als einengend empfunden.

Äußerungen, die derartigen Empfindungen Ausdruck verleihen sollen, begegnen uns übrigens häufig im Alltag. Typische Floskeln in diesem Zusammenhang lauten: „Das darf man ja heutzutage nicht mehr sagen“ oder „Man wird doch wohl noch sagen dürfen …“. Gauland scheint also mit seiner Einschätzung einen Nerv zu treffen. Es stellen sich mithin zwei Fragen, nämlich erstens, ob es tatsächlich solche Sagbarkeitsgrenzen gibt, und zweitens, wie sie zu bewerten sind.

Die Antwort auf die erste Frage hängt davon ab, was man unter sagbar verstehen möchte. Erstens kann das Wort in der Bedeutung aufgefasst werden ‚etwas, das man sagen oder ausdrücken kann‘. Analog dazu kennen wir Wörter wie (un-)zumutbar (etwas, das man jemandem zumuten oder eben nicht zumuten kann), (un-)fassbar (etwas, das man fassen oder auch nicht fassen kann). Sagbar kennen wir allerdings zweitens auch in einer etwas anderen Bedeutung, nämlich als ‚etwas, das man sagen darf‘. Etwas Unsagbares ist dann etwas, das man (in einem bestimmten Kreis oder in einer Gesellschaft, einem Land) nicht sagen darf, ohne Nachteile befürchten zu müssen. Unsagbares – so könnte man es auch ausdrücken – ist tabuisiert. Die Grenzen des Sagbaren auszuweiten, bedeutet dann nichts anderes, als sprachliche Tabus zu brechen, Äußerungen zu enttabuisieren.

Die zweite Frage bezieht sich auf die Bewertung der Grenzen des Sagbaren. Sie ist ebenfalls nicht eindeutig zu beantworten. Denn derartige Bewertungen hängen von politischen Standpunkten ab, und deshalb ist hier keine Einigkeit zu erwarten. Aber dass man über solche Bewertungen streiten kann (und muss), zeichnet eine demokratische Gesellschaft ja aus. Um dies mit einem Beispiel zu illustrieren: Während es in Russland offenbar bei Strafe verboten ist, von Krieg statt von einer militärischen Spezialoperation zu sprechen, kann man in Deutschland, Frankreich oder Schweden beispielsweise straffrei behaupten, dass die jeweilige Landesregierung vollkommen unfähig oder wahlweise korrupt sei und es nur darauf anlege, das eigene Volk zu unterdrücken. Nur am Rande sei auch darauf verwiesen, dass man in demokratisch verfassten Ländern auch öffentlich ungestraft Paradoxes behaupten darf: So ist es etwa problemlos möglich, öffentlich zu behaupten, man lebe in einer Meinungsdiktatur, dürfe dies aber öffentlich nicht sagen, da man ansonsten Gefahr für Leib und Leben befürchten müsse. (Ein Blick in die einschlägigen Sozialen Medien genügt!).

Bei der Beantwortung beider Fragen tut sicherlich ein nüchterner Blick auf die Fakten not. Tatsächlich darf man in Deutschland einige Dinge nicht sagen. Unter den Tatbestand „Volksverhetzung“ fällt etwa die Leugnung des Holocaust. Sie wird in § 130, 3 des Strafgesetzbuches (StGB) allerdings nicht per se unter Strafe gestellt, sondern nur dann – so heißt es dort –, wenn sie „öffentlich oder in einer Versammlung“ geschieht und obendrein „in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören“. Ebenfalls strafbewehrt sind beispielsweise Beleidigung (§ 185 StGB) und Üble Nachrede (§ 186 StGB). Insofern lässt sich also leicht feststellen, dass es tatsächlich Grenzen des Sagbaren gibt. Und jeder, der diese Grenzen überschreitet, muss gegebenenfalls mit einer Sanktionierung seiner Äußerungen rechnen.

Bereits diese wenigen Beispiele machen auf ein schwerwiegendes Missverständnis des häufig ins Feld geführten Begriffs der Meinungsfreiheit aufmerksam. Diese wird bekanntlich im Grundgesetz (Art. 5, 1) garantiert. Sie wird aber in Art. 5, 2 gleich wieder eingeschränkt, indem dort von „Schranken“ die Rede ist, die „zum Schutze der Jugend“ errichtet wurden und das „Recht der persönlichen Ehre“ gewährleisten sollen. Die grundgesetzlich garantierte Meinungsfreiheit bedeutet also keineswegs, dass man alles und jedes „einfach mal so“ öffentlich behaupten darf. Oder anders ausgedrückt: Wer öffentlich wahrheitswidrige, ehrverletzende oder gar volksverhetzende Äußerungen tut, kann sich eben nicht auf Meinungsfreiheit berufen.

Allerdings dürfte – um auf Gaulands Bemerkung zurückzukommen – sein Versuch, die Grenzen des Sagbaren auszuweiten, kaum auf derartige gesetzlich geregelte Sagbarkeitsgrenzen zielen.

Neben diesem gesetzlich geregelten Bereich gibt es nämlich noch andere Bereiche, in denen die Grenzen des Sagbaren von Bedeutung sind. Sie sind zwar nicht gesetzlich geregelt (und daher auch nicht strafbewehrt), aber durch gesellschaftliche Konventionen festgelegt. So würden es große Teile der Bevölkerung wohl für unangemessen halten, wenn heutzutage jemand als Anrede für eine ledige Frau den Ausdruck Fräulein wählte. Wiewohl dies vor einigen Jahrzehnten noch üblich war und auch den Höflichkeitskonventionen entsprach, hat die Sprachgemeinschaft sich in diesem Fall anders entschieden, nämlich im Sinne der sprachlichen Gleichbehandlung von Frauen und Männern: Da es keine spezielle Anrede für unverheiratete Männer gibt, besteht weder die Notwendigkeit noch das Recht, den Familienstand unverheirateter Frauen durch die Form der Anrede zu markieren. Welche Formen eine sprachliche Gleichberechtigung der Geschlechter annehmen sollte, wird seit einiger Zeit wieder öffentlich – z. T. verkürzend unter dem Schlagwort „Gendersternchen“ – intensiv diskutiert.

Ein weiterer Bereich, in dem die Grenzen des Sagbaren thematisiert und kontrovers diskutiert werden, lässt sich unter die Stichwörter Rassismus und diskriminierungsfreie Sprache subsumieren. So werden etwa Diskussionen darüber geführt, ob man eine scharfe, würzige Soße noch als Zigeunersauce bezeichnen sollte oder ob eine Mohrenstraße bzw. Mohrenapotheke nicht umbenannt werden sollten. Während die Meinungen in derartigen Fällen auseinandergehen, gibt es bei der Frage nach Bezeichnungen für Menschen mit dunkler Hautfarbe einen Grundkonsens: Es herrscht weitestgehend Einigkeit darüber, dass der Ausdruck Neger diskriminierend ist und deshalb vermieden werden sollte. Um dennoch über derartige Sprachdiskriminierungen sprechen zu können, ohne rassistische Bezeichnungen zu reproduzieren, hat sich in sprachsensiblen Kreisen die Umschreibung N‑Wort eingebürgert. Weniger Einigkeit ist hingegen bei der Frage zu verzeichnen, was eine angemessene Bezeichnung für People of Colour sein könnte. Dies dürfte damit zusammenhängen, dass auch bei Menschen, die unter sprachlicher Diskriminierung zu leiden haben, keine eindeutige Antwort auf diese Frage zu finden ist. Ebenso wenig herrscht Übereinstimmung bei der Beantwortung der Frage, ob denn tatsächlich schon jede Erwähnung des N‑Wortes oder des Wortes Zigeuner – ganz unabhängig vom Kontext – Rassismus (re-)produziere. Mit guten Gründen lässt sich dagegen einwenden, dass man ja bei der Diskussion darüber, welche Wörter man aus welchen Gründen als rassistisch empfindet, eben diese Wörter zumindest erwähnen können muss. Wenn selbst dies nicht mehr gewährleistet ist und Rassismusvorwürfe nach sich zieht, wird eine rationale Auseinandersetzung darüber, was man für sprachlich angemessen oder unangemessen hält, schwierig, wenn nicht gar unmöglich. An ihre Stelle tritt dann eine von Angst und Überbehütung geprägte Haltung, die nicht nur den tabuisierten Ausdrücken magische Fähigkeiten zuspricht, sondern gleichzeitig die Möglichkeit verneint, offen (und durchaus kontrovers) über tabuisierte bzw. zu tabuisierende Ausdrücke metasprachlich zu diskutieren, ohne diese – absichtlich oder unabsichtlich – in diskriminierender Weise zu verwenden.

Betrachten wir abschließend noch einmal Gaulands Äußerung vor dem Hintergrund eines Bereichs, den man mit dem Oberbegriff „Political Correctness“ umschreiben kann, so lässt sich feststellen, dass die Vertreter:innen der AfD bzw. der politisch extremen Rechten wohl insbesondere hier Sagbarkeitsgrenzen verschieben wollen. Während Alice Weidel bereits im Jahr 2017 mit der Behauptung hervortritt, politische Korrektheit gehöre „auf den Müllhaufen der Geschichte“, geben andere Vertreter:innen der Partei dieser Überzeugung Ausdruck, indem sie die ungeschriebenen Gesetze des politischen bzw. politiksprachlichen Anstands immer wieder gezielt übertreten. Zu denken ist in diesem Zusammenhang an Äußerungen Gaulands, nach denen man die damalige Ausländerbeauftragte der Bundesregierung, Aydan Özuguz, in Anatolien „entsorgen“ könne, an seine Behauptung in Bezug auf den Fußballspieler Boateng, „die Leute“ wollten „einen Boateng“ nicht als Nachbarn, oder seine Bezeichnung Vogelschiss für die Zeit der NS-Herrschaft. Björn Höckes – bewusst ambivalent gehaltener – Ausdruck Denkmal der Schande für das Holocaust-Mahnmal in Berlin lässt sich ebenfalls hier einsortieren, und es gibt zahlreiche weitere Beispiele. Sie stehen zum großen Teil in Zusammenhang mit dem Thema Vergangenheitsbewältigung. Insbesondere bei diesem Themenbereich sieht die politische Rechte offenbar die Notwendigkeit einer Korrektur bzw. eines „Schlussstrichs“. Den Anfang machte dabei übrigens Frauke Petry, die vormalige Vorsitzende der AfD, als sie in einem Interview scheinbar naiv die Frage aufwarf, warum man denn das Wort völkisch eigentlich nicht mehr verwenden dürfe.

Die Beurteilung derartiger sprachlicher Tabubrüche bedarf nicht nur politischer, sondern auch moralischer Maßstäbe. Letztere können – übrigens jenseits provokativer Vokabeln wie Kollektivschuld oder Meinungsdiktatur – eine Richtschnur bei der Beantwortung von Fragen sein, die das gesellschaftliche Zusammenleben betreffen: Wie wollen wir, dass über Minderheiten gesprochen wird? Dürfen Minderheiten Sprachvorschriften erlassen, an die sich alle zu halten haben? Was gebietet sprachliche Höflichkeit, wo fängt Gängelei an? Eine aufgeklärte, demokratische Gesellschaft muss sich solchen Fragen stellen und sie ohne Tabus diskursiv auf rationaler Grundlage klären. Denn auch bei der Diskussion sprachlicher Konventionen gilt idealerweise der „zwanglose Zwang des besseren Argumentes“ (Habermas).
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Autor: Niehr, T., „Die Grenzen des Sagbaren“, Organisationsberat Superv Coach (2024), mit Open Access | CC BY 4.0 DEED | DOI: 10.1007/s11613-024-00874-2