Demographie, Lehrkräftemangel und -planung

Grundschullehrkräfte: Damit die Rechnung aufgeht

Deutschland ächzt unter dem Lehrkräftemangel. Doch während die weiterführenden Schulen wohl für mindestens eine weitere Dekade fehlende Lehrer:innen kompensieren müssen, könnte sich die Situation an den Grundschulen in den nächsten Jahren rasch verbessern. Wie die Bertelsmann Stiftung gemeinsam mit dem Bildungsforscher Klaus Klemm kürzlich vorgerechnet hat, dürften bis 2035 insgesamt rund 96.000 fertig ausgebildete Lehrkräfte für das Grundschullehramt zur Verfügung stehen. Der Grundbedarf für die Unterrichtsversorgung wird jedoch voraussichtlich nur etwas mehr als 50.000 Personen umfassen. Bis 2035 könnten also zusammengenommen 45.800 Grundschullehrer:innen zusätzlich bereitstehen.

Verantwortlich dafür ist das Zusammentreffen sinkender Geburtenzahlen (und damit weniger Schüler:innen) mit einer steigenden Zahl frisch ausgebildeter Grundschullehrkräfte. Während 2021 in Deutschland noch 795.500 Kinder geboren wurden, waren es 2022 noch 738.800 und 2023 hochgerechnet nur noch etwa 690.000. Dieser deutliche Geburtenrückgang führt ab 2028 zu geringeren Schülerzahlen als bislang von offizieller Seite angenommen und damit auch zu einem geringeren Bedarf an Lehrkräften. Nach unseren Berechnungen wird der Bedarf an Grundschullehrkräften 2025 mit mehr als 213.000 seinen Höchststand erreichen und dann bis 2035 auf rund 180.000 abnehmen. Der Bedarf an Neueinstellungen wird voraussichtlich in den Jahren 2029 bis 2032 besonders stark sinken, danach allerdings wieder etwas ansteigen, da mehr Lehrkräfte in den Ruhestand eintreten. Dieser verringerte Grundbedarf trifft auf steigende Absolventenzahlen. Auch in Reaktion auf unsere vor sechs Jahren veröffentlichte Studie „Lehrkräfte dringend gesucht“, in der wir vor dem drohenden Lehrkräftemangel an den Grundschulen warnten, wurden die Studienplätze für das Grundschullehramt deutlich aufgestockt. Da eine Lehramtsausbildung einschließlich Vorbereitungsdienst ca. sieben Jahre dauert, erlangen die ersten der zusätzlichen Studierenden in den kommenden Jahren ihren Abschluss.

Bedeutet ein Mehr an Absolvent:innen bei sinkendem Einstellungsbedarf eine neue Phase des sogenannten Schweinezyklus, in der angehenden Lehrkräften die Arbeitslosigkeit droht? Zu wünschen ist, dass es diesmal anders kommt. Denn die Herausforderungen für Deutschlands Grundschulen sind auch ohne Lehrkräftemangel immens: Basis­kompetenzen bei Grundschulkindern im Sinkflug, steigende Vielfalt im Klassenzimmer, Inklusion, geflüchtete Kinder mit Traumata, allgemein eine Zunahme psychosozialer Belastungen. Da kommt die Nachricht, dass in wenigen Jahren zusätzliche Lehrkräfte zur Verfügung stehen werden, wie gerufen. Es öffnet sich ein Gelegenheitsfenster, um die aufgrund des Personalmangels lange Zeit aufgeschobenen Investitionen in die pädagogische Qualität an Grundschulen endlich umzusetzen.

Damit die Rechnung aber aufgeht, braucht es jetzt rasch ein klares Signal seitens der Politik. Neben dem Risiko, dass die Entwicklung mit Blick auf Geburten oder Zuwanderung anders ausfallen kann als heute erwartet, bergen Prognosen wie die unsere auch die Gefahr, die tatsächliche Entwicklung selbst ins Gegenteil zu verkehren: Wenn künftige Studierende sich angesichts zweifelhafter Berufsaussichten vom Lehramtsstudium abwendeten, würde sich der von uns ermittelte personelle Spielraum schlimmstenfalls in Luft auflösen. Die Schulpolitik muss künftigen Absolvent:innen also heute schon verlässliche Aussichten bieten, damit sich weiterhin viele junge Menschen für ein Studium auf Grundschullehramt entscheiden.

In der Studie unterbreiten wir zwei konkrete Vorschläge dafür, wie diese Perspektiven aussehen könnten: Erstens könnten die zusätzlichen Lehrkräfte das ab dem kommenden Schuljahr von Bund und Ländern geplante Startchancen-Programm verstärken. Es dient dazu, Schulen mit einem hohen Anteil sozial benachteiligter Schüler:innen gezielter zu fördern. Davon sind ca. 2.400 Grundschulen betroffen, an denen oft 80 % der dort lernenden Schüler:innen nicht einmal die Mindeststandards erreichen. Der sich abzeichnende Spielraum bei Junglehrkräften böte die Chance, diesen Schulen deutlich mehr Lehrer:innen zuzuteilen. Das Gießkannenprinzip bei der Personalausstattung wäre damit endlich Geschichte. Zweitens könnten die zusätzlichen Lehrkräfte im Grundschul-Ganztag zum Einsatz kommen. Hier besteht Handlungsdruck, da ab 2026 der vom Bund eingeführte Rechtsanspruch auf eine ganztägige Förderung von Kindern im Grundschulalter greift. 700.000 Plätze und 108.000 Pädagog:innen fehlen dafür. Im Rahmen multiprofessioneller Teams könnten die Lehrer:innen den großen Zusatzbedarf zumindest teilweise abfedern.

Beide Ansätze, die sich auch kombinieren ließen, würden auf die stetig wachsenden pädagogischen Herausforderungen an den Grundschulen reagieren. Nach vielen Jahren schlechter Nachrichten ist das ein echter Hoffnungsschimmer für das deutsche Schulsystem.
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Autor: Zorn, D., „Grundschullehrkräfte: Damit die Rechnung aufgeht“, Wirtschaftsdienst, 104. Jahrgang., Heft 2, 2024, Seite 73,  als Open Access | CC BY 4.0 | DOI: 10.2478/wd-2024-0023

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