Kindergeld oder Kinderfreibetrag?

Die Ampelkoalition streitet munter weiter. Unter anderem über die zusätzliche Anhebung des Kinderfreibetrags 2024. Da die Grundsicherung durch die Inflationsanpassung deutlich stärker steigt als ursprünglich erwartet, will das Finanzministerium unter Christian Lindner den Kinderfreibetrag 2024 nachträglich um 2,4 % anheben, auf 9.540 Euro je Kind und Jahr. SPD und Grüne fordern, auch das Kindergeld entsprechend zu erhöhen. Das lehnt der Finanzminister jedoch ab, da das Kindergeld bereits 2023 kräftig gesteigert wurde. Tatsächlich wird der Kinderfreibetrag einschließlich der geplanten Erhöhung um 9 % gegenüber 2022 steigen. Das Kindergeld für erste und zweite Kinder ist dagegen wegen der hohen Inflation bereits 2023 um gut 14 % angehoben worden. Insoweit müsste es jetzt nicht erhöht werden, wenn man beide Familienleistungen gleichlaufen lassen will. Letztlich geht es bei dieser Diskussion um Grundfragen des steuerlichen Familienleistun­gsausgleichs – gleichsam eine neue Strophe des uralten steuer- und familienpolitischen Evergreens: Soll man Kinder bei der Einkommensteuer mit dem Kinderfreibetrag berücksichtigen oder soll der Staat allen Kindern das gleiche Kindergeld zahlen?

Als die alten Preußen 1891 eine moderne Einkommensteuer einführten, gab es bereits einen Extra-Freibetrag für Kinder unter 14 Jahren in Höhe von 50 Mark. In heutigen Einkommen wären das etwa 3.000 Euro. Spätestens seit den 1960er Jahren wurde dann die Einkommensteuer zur Massensteuer und Haupteinnahmequelle des Staates. Die Kinderfreibeträge lagen seit 1962 bei 1.200 DM für das erste, 1.680 DM für das zweite und 1.800 DM für jedes weitere Kind. Das wären heute 7.400 Euro, 10.400 Euro und 11.200 Euro. Zugleich wurde das Kindergeld, das die Nationalsozialisten 1935 für kinderreiche Familien eingeführt hatten, sukzessive erhöht und ab dem zweiten Kind gezahlt. Die sozialliberale Koalition führte dann 1975 das Kindergeld ab dem ersten Kind ein und schaffte den Kinderfreibetrag ab – unter der Mitwirkung der FDP und mit Zustimmung der Union im Bundesrat. Seitdem tobt der Streit, ob der Familienleistungsausgleich durch Kindergeld oder Kinderfreibetrag erreicht werden soll. Die schwarz-gelbe Regierung unter Kohl führte 1983 den Kinderfreibetrag wieder ein und erhöhte das Kindergeld nicht mehr. In den 1990er Jahren verlangte dann das Bundesverfassungsgericht, dass das Existenzminimum der Steuerpflichtigen und ihrer Kinder steuerfrei bleiben solle, orientiert an der Grundsicherung. Daraufhin wurde 1996 das „duale System“ eingeführt, das bis heute gilt: Bei der Einkommensteuerveranlagung wird die steuerliche Entlastungswirkung des Kinderfreibetrags mit dem Kindergeld verglichen und verrechnet, wenn sie höher ausfällt. Seitdem bleibt es bei Normalverdienenden beim Kindergeld. Für die höheren Töchter und Söhne der besser- und hochverdienenden Familien gibt es eine zusätzliche steuerliche Entlastung durch den Kinderfreibetrag. Das betrifft gut ein Viertel der Kindergeld-Kinder.

Beim derzeitigen Einkommensteuertarif, einschließlich der von Lindner vorgeschlagenen Erhöhungen, ist der Kinderfreibetrag für ein Ehepaar ab einem gemeinsamen zu versteuernden Einkommen (zvE) von 80.100 Euro im Jahr günstiger. Bei zwei Arbeitnehmern mit Standardabzügen entspricht das einem Bruttoeinkommen von gut 100.000 Euro. Der Zusatzvorteil je Kind und Jahr steigt auf 1.483 Euro in der Gleitzone des Solidaritätszuschlags (ab 146.600 zvE), sinkt auf 1.227 Euro nach dem Ende der Gleitzone (ab 220.800 Euro zvE) und steigt auf 1.528 Euro bei der Reichensteuer (ab 565.200 Euro).

Viele empfinden es als ungerecht, dass reiche Eltern bis zu 1.500 Euro im Jahr mehr vom Staat für ihre Kinder bekommen als Normalverdienende und Arme. Die normative und ideologische Grundfrage dabei ist, ob man Lebenshaltungskosten und Aufwendungen für Betreuung, Erziehung und Ausbildung (BEA) der Kinder als Minderungen „steuerlicher Leistungs­fähigkeit“ sieht, die bei der Steuerbelastung zu berücksichtigen sind – wie es der legendäre „Professor aus Heidelberg“ Paul Kirchhof in den 1990er Jahren im Bundesverfassungsgericht verordnet hat. Dies verfassungsrechtlich in Stein zu meißeln, ist sicher übertrieben. In anderen Ländern gibt es häufig nur ein Kindergeld oder entsprechende Steuer­abzüge. Aber der Kinderfreibetrag hat schon eine gewisse Logik und Stringenz: Wenn Steuerpflichtige das gleiche Einkommen erzielen, haben die mit Kindern weniger Geld für sich selbst und sind insoweit weniger „leistungsfähig“ – sieht man vom „Nutzen“ der Kinder ab.

Der Kinderfreibetrag soll daher die horizontale Gleichbehandlung der Steuerpflichtigen beim progressiven Einkommensteuertarif gewährleisten. Die höheren steuerlichen Entlastungen sind dann eben Folge der Steuerprogression. Andere Abzüge von der Besteuerungsgrundlage, wie Werbungskosten oder Sonderausgaben, begünstigen Steuerpflichtige mit hohen Einkommen auch stärker als Geringverdienende. Und der gutverdienende Unternehmer darf seinen Porsche-SUV von der Steuer abziehen und für moderate geldwerte Vorteile auch privat nutzen, ebenso wie die Managerin – auch wenn das wegen der Umwelt- und Klimawirkungen zunehmend kritisch gesehen wird.

In den Koalitionsvertrag haben SPD und Grüne im Rahmen der Kindergrundsicherung hineinverhandelt, durch den Garantiebetrag (sprich: ein höheres Kindergeld) „den verfassungsrechtlichen Vorgaben nach Freistellung des kindlichen Existenzminimums bei der Besteuerung des Elterneinkommens zu entsprechen“. Ein höheres Kindergeld für alle ist aber naturgemäß recht kostspielig für den Fiskus. Schon 10 Euro mehr im Monat pro Kind kosten 1,7 Mrd. Euro im Jahr. Das ist schon ein Problem, nachdem das Bundesverfassungsgericht die Schuldenbremse angezogen hat und der Ampel das Geld ausgegangen ist. Erst recht gilt das für Forderungen aus SPD, Grünen und Sozialverbänden, das Kindergeld deutlich zu erhöhen. Außerdem ist die Frage, ob man die monetären Familienleistungen breit ausbaut oder das Geld nicht besser in Bildung und Betreuung investiert.

Kritisch überprüfen sollte man aber die Höhe des Kinderfreibetrags, soweit er besser- und hochverdienende Familien übermäßig begünstigt. Für das sächliche Existenzminimum gibt es ein etabliertes und sachgerechtes Verfahren. Es wird regelmäßig entsprechend den Leistungen der Grundsicherung ermittelt und angepasst, so wie derzeit. Dagegen ist der BEA-Freibetrag nie wirklich begründet worden. Er wurde zuletzt 2021 auf 2.928 Euro je Kind und Jahr erhöht. Das sind immerhin 244 Euro im Monat. Die sind schnell ausgegeben für Kinderbetreuung, Nachhilfe oder auch für teurere Sportvereine oder Musikunterricht. Aber die Kinderbetreuung ist in vielen Gemeinden kostenlos und viele Mittelschicht-Eltern müssen mit deutlich weniger auskommen. Daher wäre es sinnvoll, die BEA-Aufwendungen genauer zu spezifizieren und nur regelmäßig anfallende Kosten pauschal als Freibetrag zu berücksichtigen – etwa für Ausflüge und Klassenfahrten, Schulbedarf, Schülerfahrkarten, Schulmittagessen, Sportverein oder Musikschule. Höhere Kosten, etwa für Kinderbetreuung oder Nachhilfe, sollten dann zusätzlich auf Nachweis abgezogen werden können, so wie es beim Schulgeld für Privatschulen gemacht wird. Dann könnte der Kinderfreibetrag zum Beispiel um 1.500 Euro gesenkt werden. Die pauschale Zusatzentlastung durch den Kinderfreibetrag wäre entsprechend geringer – und die ständige Grundsatzdiskussion zum Familienleistungsausgleich würde zumindest entschärft. Zugleich würden besserverdienende Eltern profitieren, die hohe BEA-Aufwendungen haben, die sie bisher aus versteuertem Einkommen bezahlen.
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Autor: Bach, St., „Kindergeld oder Kinderfreibetrag? – Ein steuer- und familienpolitischer Evergreen“, Wirtschaftsdienst, 104. Jahrgang., Heft 2, 2024, Seite 70-71,  als Open Access | CC BY 4.0 | DOI: 10.2478/wd-2024-0021

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