Streikrecht – Forderung nach Zwangsschlichtung

Die auf Kooperation anstatt auf Konflikt angelegten industriellen Beziehungen, also das durch das kollektive Arbeitsrecht gerahmte Verhältnis von Arbeitgebern und Arbeitnehmern, waren mitentscheidend für den Aufstieg Deutschlands zu einer der größten Volkswirtschaften der Welt und den Ausbau des Wohlfahrtsstaates. Die Tarifautonomie ermöglichte es den Arbeitnehmern, humane Arbeitsbedingungen zu sichern und am gesellschaftlichen Reichtum teilzuhaben. Für die Arbeitgeber bedeutete sie, berechenbare Lohnsätze und Arbeitszeiten zu erreichen.

Das Verhältnis zwischen den Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen ist gleichwohl immanent konfliktbehaftet, da es auf gegensätzlichen Interessen beruht. Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelte der amerikanische Soziologe W. G. Sumners den diesen Gegensätzen zugrunde liegenden Gedanken der antagonistischen Kooperation, der fallweisen kooperativen Zusammenarbeit bei gleichzeitig scharfer Konkurrenz um die Verteilung der Wertschöpfung.

Streik und Aussperrung stellen die härtesten Schritte in Arbeitskonflikten dar. Die Arbeitsgerichtsbarkeit hat hierzu verbindliche Grundsätze im kollektiven Arbeitsrecht entwickelt, zu deren wichtigsten die Verhandlungs- und Kampfparität sowie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zählen. Dieses tripartistische Modell einer impliziten antagonistischen Kooperation im Rahmen der industriellen Beziehungen – mit dem Staat und seinem Arbeitsrecht als drittem Akteur – hat jahrzehntelang trotz zum Teil heftigster Arbeitskämpfe so gut funktioniert, dass es vielfach von anderen Ländern als beispielgebend betrachtet wurde. Verbindliche Regelwerke, wie sie im kollektiven Arbeitsrecht, in Tarifverträgen, in der Arbeitszeitordnung etc. verankert sind, gelten als Voraussetzung zur Lösung derartiger Interessengegensätze und den daraus resultierenden Konflikten. Die antagonistische Kooperation ist also keineswegs ein Weichspülmittel für Arbeitskämpfe, wirkt gleichwohl befriedend auf die Austragung von Streiks und Aussperrungen und hat die Kampfparität bewahrt.

Jahrzehntelang war in Deutschland das Industriegewerkschaftsprinzip mit dem Richtsatz „ein Betrieb, eine Gewerkschaft“ vorherrschend. Das Urteil des Bundesarbeitsgerichts (BAG) zur Aufhebung der Tarifeinheit im Juni 2010 führte jedoch zu einer Bedeutungszunahme von Spartengewerkschaften. Was die relativ kleine Gewerkschaft der Flugsicherung oder die Vereinigung Cockpit erfolgreich vorgemacht haben, findet nun zunehmend Nachahmer wie bei der GDL: Als Vertretung hochgradig spezialisierter Berufsgruppen setzen sie für ihre Mitglieder Sonderinteressen im Vergleich zu anderen Beschäftigten durch. Mit der Drohung, im Streikfall große vernetzte logistische Systeme auf breiter Front zum Erliegen zu bringen, wie z. B. mit täglich hunderttausenden unbeteiligten Bahnreisenden, die ihren Weg zur Arbeit nicht antreten können, wächst ihnen ein massives Drohpotential gegenüber der Allgemeinheit zu. Auch große Gewerkschaften wie ver.di nutzen die Externalisierung der Streikfolgen, wenn für das Bodenpersonal an Flughäfen zum Streik aufgerufen wird und pro Streiktag ebenfalls hunderttausende Fluggäste ihr Ziel nicht erreichen. Bei solchen Kampfmaßnahmen von Funktionseliten verlagern sich die Auswirkungen also vor allem auf die Allgemeinheit, die auf das Funktionieren der Infrastruktur angewiesen ist. Die volkswirtschaftlichen Kosten sind noch außerordentlicher als für die direkt oder indirekt betroffenen Unternehmen.

Charakteristisches Merkmal dieses Vorgehens ist eine Externalisierung der Streikfolgen mit einer Maximierung des Kollektivschadens. Mit dem inhärenten Bedrohungspotential für die Funktionsfähigkeit einer verflochtenen Wirtschaft wird allerdings ganz offenkundig gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen. Sofern es die Arbeitsgerichtsbarkeit nicht aus eigener Einsicht schafft, muss eine Ahndung dieses Verstoßes durch den Staat als drittem Akteur der industriellen Beziehungen im Gesetzgebungsverfahren erfolgen. Ohne die Koalitionsfreiheit zu beschränken, würde z. B. die Einführung einer regelbasierten Zwangsschlichtung dazu beitragen, die Streikfolgen für die unbeteiligten Nutzer der Infrastruktur auf ein hinzunehmendes Niveau zu beschränken.

Werden die gewerkschaftlich organisierten Kampfmaßnahmen der Funktionseliten an den Schlüsselpositionen der Infrastruktur derzeit also zum Totengräber des einst so erfolgreichen Prinzips der antagonistischen Kooperation? Das ist trotz allem nicht zu erwarten, weil die große Mehrheit der bei Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden organisierten Mitglieder es immer geschafft hat, selbst bei divergierendsten Interessen zu einer Einigung zu gelangen. Eine Zwangsschlichtung im Falle der Externalisierung und Maximierung des Kollektivschadens würde allerdings dazu beitragen, Sonderinteressen von Funktionseliten nicht mehr so einfach auf Kosten des Gemeinwohls durchsetzen zu können.
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Autor: von Lüde, R., „Externalisierung von Streikfolgen: Ende antagonistischer Kooperation?“, Wirtschaftsdienst, 104. Jahrgang., Heft 3, 2024, Seite 144, als Open Access | CC BY 4.0 | DOI: 10.2478/wd-2024-0041

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